Seite - 169 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 169
zeitgleich mit anderen radioaktiven Substanzen entdeckt worden war, galt Polonium
wegen seiner geringen Halbwertszeit zunächst nicht als zuverlässige Strahlungsquelle. Es
gewann erst seit Mitte der 1920er Jahre entscheidend an Bedeutung, als der Wiener
Physiker Ewald Schmidt seine Qualitäten als Strahlungsquelle von α-Teilchen für die
Atomzertrümmerung entdeckte.381 Gegenüber dem energiereicheren Radium C hatte
Polonium entscheidende Vorteile. Während Radium C sowohl α- als auch insbesondere
γ-Strahlen aussandte, gab Polonium außer reichlicher, hochenergetischer α-Strahlung
praktisch keine anderen Strahlenarten ab. Dies erleichterte die Zählung der Szintillati-
onen, da der Schirm nicht durch γ-Hintergrundstrahlung erleuchtet wurde.382 Polo-
nium eignete sich aus ähnlichen Gründen auch besonders für die Verwendung von
Geiger-Müller-Zählern, weshalb es seit Ende der 1920er Jahre in den meisten kernphy-
sikalisch arbeitenden Laboratorien Einzug als Strahlungsquelle hielt.383
Da Polonium relativ kurzlebig war, mussten entsprechende Präparate kontinuierlich
hergestellt werden. Die damals bekannten Methoden erforderten einen vergleichsweise
hohen Materialeinsatz sowie Geduld. Das Institut für Radiumforschung verfügte über
eine Anlage, in der Radiumemanation aus einem Gramm Radium in Lösung gewon-
nen wurde. Im Laufe der Jahre entstand durch den Zerfallsprozess aus der Emanation
bleifreies Radium D. Es wurde als Quelle für Polonium sowie für Spezialuntersuchun-
gen verwendet.384 Polonium wurde auch aus technischem, stark mit gewöhnlichem
Blei verdünntem Radioblei (Acetatlösungen, später Nitratlösungen) gewonnen, wel-
ches als Nebenprodukt der St. Joachimsthaler Radiumproduktion vor dem Krieg an-
gefallen war und im Keller des Instituts lagerte. Im Sommer 1918 begannen in St.
Joachimsthal wie auch in Wien die Vorbereitungen, um die sogenannten Rückrück-
stände aufzuarbeiten.385 Schließlich erhielt das Institut für Radiumforschung durch
die belgische Union Minière von Zeit zu Zeit Materialien, um daraus Poloniumpräpa-
rate herzustellen.
Schon vor dem Krieg hatte die Radioaktivistengemeinschaft im In- und Ausland
Poloniumlösungen (Radiobleiazetat) aus Wien bezogen. Anfangs geschah dies gratis,
doch spätestens seit 1913 war die Beschichtung von Elektroden beziehungsweise Metall-
plättchen mit Polonium kostenpflichtig.386 In der unmittelbaren Nachkriegszeit war der
Poloniumhandel ein willkommenes Mittel, um das magere Institutsbudget aufzusto-
381 Vgl. Schmidt 1925.
382 Vgl. Hughes 1993, Chapter 3, 20 ; Stuewer 1985, 274.
383 Vgl. Hughes 1997, 330.
384 Vgl. Meyer 1950, 15.
385 Vgl. ÖStA, AVA, k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten XVII 1918, F 845 (309 a-) : Stefan Meyer,
Memorandum betreffend die Verwertung radioaktiver Substanzen vom 5.6.1918.
386 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 21, Fiche 341 : Meyer an Unbekannt vom 21.3.1913.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369