Seite - 173 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 173
Wien eine Strahlungsquelle in bisher unerreichter Stärke vorlag. Zugleich erlaubte das
neue Präparat eine genauere spektralanalytische Untersuchung, und es rückte auch die
Atomgewichtsbestimmung von Polonium in greifbare Nähe.404 Das Wiener Verfahren
zur Poloniumkonzentration fand bei den Curies viel Lob.405 Die Pariser Präparate
wurden auf Grundlage der elektrochemischen Rotationsmethode und nicht wie in
Wien nach der Destillationsmethode hergestellt, und sie erreichten erst 1931 die Stärke
von 40.000 elektrostatischen Einheiten – zwei Jahre, nachdem dies in Wien gelungen
war.406
Wie schon im Falle des Radiums wurden die in Wien hergestellten Poloniumpräpa-
rate zur Grundlage eines neuen Netzwerkes, das auf dem Austausch von Personen,
Präparaten und wissenschaftlichen Ergebnissen beruhte. Anders als im Fall der radio-
aktiven Muttersubstanzen fielen die Poloniumpräparate nicht unter das geltende Ver-
leih- und Verkaufsverbot. Sie konnten daher frei zwischen den Laboratorien im In-
und Ausland zirkulieren : Ortner, der am Institut für Radiumforschung röntgenspekt-
roskopisch ausgebildet worden war, setzte seine Forschungen in Uppsala fort, wo
Siegbahn die Spektralanalyse verschiedener Elemente mit modernsten Methoden be-
trieb.407 Die Poloniumpräparate, deren Spektren Ortner aufzeichnen wollte, nahm er
aus dem Wiener Institut mit.
Die starken, wegen ihrer geringen Halbwertszeit aber nur begrenzte Zeit verwend-
baren Wiener Poloniumpräparate waren im In- und Ausland sehr begehrt. Sieht man
einmal von der Option eines Poloniumankaufs bei der Radiumindustrie ab, hatte sich
das Institut für Radiumforschung gemeinsam mit dem Laboratoire Curie in Paris in
der wissenschaftlichen Welt das Monopol an einem radioaktiven Stoff gesichert. In
Großbritannien verwies man Anfragen wegen mangelnder Poloniumvorräte schon
Mitte der 1920er Jahre an die Wiener Adresse.408 Auch im Deutschen Reich verfügten
die meisten Institute nur über sehr geringe Mengen Polonium, die in der Regel aus
alten Radiumpräparaten gewonnen wurden.409 James Chadwick hatte das Glück, über
Lise Meitner aus dem Berliner KWI für Chemie eine relativ starke Poloniumquelle von
2.000 elektrostatischen Einheiten zu bekommen.410 In den meisten Fällen reichten die
404 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 281 : Pettersson an Kreidl vom 11.12.1929.
405 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 214 : Hevesy an Meyer vom 10.4.1930.
406 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 233 : Karlik an Meyer vom 11.9.1931.
407 Vgl. RAC, RF, RG 12.1, Box 64 : Professor L.W. Jones’ trip to Germany, Czechoslowakia, Hungary,
Austria & Italy vom 14.4.1930. Vgl. zu Siegbahns Schule der Röntgenspektroskopie Crawford 1992b,
71–73.
408 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 279 : Malik an Pettersson, undatiert [1926/27].
409 Vgl. CAC, MTNR 5/17/2, Bl. 28 : Meitner an Scherrer vom 24.4.1935.
410 Vgl. CAC, MTNR 5/3/1, Bl. 17 : Meitner an Chadwick vom 17.10.1928.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369