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Das Zentrum behauptet sich 191
In der Wiener Kernforschungsgruppe verfügte in den 1930er Jahren kaum jemand
über ausreichende Mittel, um eine Studienreise nach Übersee zu unternehmen. Die
kernphysikalischen Aktivitäten in den europäischen und US-amerikanischen For-
schungszentren waren dort gleichwohl bestens bekannt. Meyer stand als Institutsleiter
in engem Briefkontakt mit US-amerikanischen und britischen Kollegen und erfuhr
zudem über Dritte zeitnah von den neuen technischen Entwicklungen.62 Die auslän-
dischen Briefpartner berichteten zwar nicht immer en détail ; dennoch war man in
Wien über die Probleme, das hochkomplexe Geräte zu beschaffen und zu bedienen,
recht gut im Bilde. Elisabeth Rona hatte als Gastforscherin mehrfach am Laboratoire
Curie in Paris gearbeitet und 1936 das Labor von Soddy in Oxford besucht. Sie infor-
mierte Meyer ausführlich über die dortigen Aktivitäten.63 Auch Elisabeth Kara-
Michailova, die 1937 als Stipendiatin am Cavendish Laboratory arbeitete, berichtete
nach Wien :
»Von Irene [Joliot-Curie, S. F.] hat man schon lange nichts mehr gehoert, ich möcht’ wissen,
ob die nicht mit ihren 2 x 106 Volt etwas ganz grossartiges machen, oder ob sie alle in Paris
eingeschlaffen [sic !] sind. […] Unsre Cambridger Anordnung ist noch nicht ganz betriebs-
fertig ; die Röhre macht noch Schwierigkeiten. Aber das wird wohl noch vor den Ferien er-
ledigt werden.«64
Außerdem nutzte Hans Pettersson die Gelegenheit, sich auf der Rückreise von Wien
nach Göteborg einen Eindruck davon zu machen, wie die Laboratorien in Paris umge-
baut wurden und die Forschungsarbeiten vorankamen.65 Schließlich machte sich
auch Emerich Granichstädten, ein wohlhabender Wiener Chemiker und Unternehmer,
der mit Meyer an der Gründung eines Forschungsinstituts in Gastein arbeitete, 1937
ein Bild von den neuen Pariser Hochspannungsanlagen.66
Die in Wien zusammenlaufenden Informationen über die europäischen Teilchenbe-
schleuniger waren offenbar widersprüchlich. Denn der Nutzen der neuen Großgeräte
für die Erforschung der künstlichen Kernumwandlung blieb ähnlich umstritten wie im
62 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 255 : Lind an Meyer vom 29.12.1937 ; ebd., K
18, Fiche 297 : Rutherford an Meyer vom 23.4.1937 ; ebd., K 13, Fiche 215 : Hevesy an Meyer vom
29.8.1936.
63 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 291 : Rona an Meyer vom 17.7.1934 und vom
2.8.1936.
64 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Rona, K 67, Fiche 973 : Kara-Michailova an Rona vom 12.7.1937. Siehe auch
Tsoneva-Mathewson/Rayner-Canham 1997, 205–208.
65 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 284 : Pettersson an Meyer vom 29.3.1936.
66 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 22, Fiche 353 : Meyer an Joliot-Curie vom 12.10.1937. Siehe
zur Frühgeschichte des Gasteiner Forschungsinstitutes Knierzinger 2012.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369