Seite - 194 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Kernforschung in Österreich,
1932–1938194
Institute in London, vermittelt durch den Direktor der Chemikalisch-Physikalischen
Laboratorien im Londoner Radium Institute W. Lester S. Alton, eine größere Menge
alter Radiumkapillaren und -gefäße, aus denen Polonium extrahiert werden konnte.75
Auch Paris ging nicht leer aus : Irène Joliot-Curie und ihr Mann Frédéric arbeiteten
intensiv an der Darstellung von Radium D und Polonium aus belgischen Proben, zeit-
weise sogar vor Ort in Brüssel.76 Zusätzlich erhielten die Curies von der Union Mini-
ère zwei Gramm Radium in Lösung, um daraus Radium D abzuscheiden.77
Bis die ersten großtechnischen Geräte in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in
Betrieb gingen, bestimmte der Zugang zu den natürlichen Strahlungsquellen, allen
voran Polonium, den Aktionsradius der kernphysikalisch arbeitenden Laboratorien.
Dies zeigte sich besonders eindrucksvoll in Paris, wo mehrere Gruppen kernphysika-
lisch arbeiteten. Während die Gruppe um das Ehepaar Joliot-Curie über leistungsfä-
hige Strahlungsquellen verfügte, litten andere unter ähnlichem Poloniummangel wie
ihre Kollegen in Großbritannien oder Italien. Louis de Broglie, der 1931 in das gerade
erst entstehende Feld der Kernforschung einzutreten versuchte, musste seine For-
schungsarbeiten zum Neutron mangels einer leistungsfähigen Strahlungsquelle einstel-
len. Für ihn wurde die Höhenstrahlungsforschung zu einem Ersatzgebiet, das zwar die
gleichen Messapparate wie die Kernforschung erforderte – Nebelkammern, Röhren-
verstärker, Geiger-Müller-Zählrohre – nicht aber die äußerst knappe Strahlungsquelle
Polonium.78
Die Abhängigkeit von natürlichen Strahlungsquellen zeigte sich auch in Italien : Der
Einstieg der Fermi-Gruppe in die physikalische Kernforschung wäre ohne die großzü-
gige Spende einer Radium-Berylliumquelle durch den Leiter des Laboratorio della Sa-
nità Pubblica in Rom, Giulio Cesare Trabacchi, nicht möglich gewesen.79 In Cam-
bridge und andernorts interessierte man sich ebenfalls für die Wiener Methode starke
Poloniumpräparate herzustellen, ohne jedoch in das Wiener Tausch- und Verleihsystem
eingebunden zu sein.80 Chadwick arbeitete stattdessen mit einem Poloniumpräparat,
das aus alten Radonkapseln des Kelly Hospitals in Baltimore gewonnen worden war.81
Mit diesem Präparat untersuchte er die durch Beschuss des Berylliums mit α-Strahlen
hervorgerufene γ-Strahlung, die letztlich in der Entdeckung des Neutrons mündete.
75 Vgl. GUB, Hans Pettersson : Karlik an Pettersson vom 15.3.1931.
76 Vgl. Vanderlinden 1990, 103, und MC, ALC, Fiche 3771 : Curie an Lechien vom 27.11.1933.
77 Vgl. AR-AGR, UM, 259/1078 : Lechien an Curie vom 29.11.1933.
78 Vgl. Hughes 1997, 338.
79 Vgl. Battimelli 2003, 175.
80 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 292 : Rona an Meyer vom 21.7.1936 und vom
19.7.1937 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 240 : Korvezee an Meyer vom 21.11.1935.
81 Vgl. Chadwick 1962, 159–162.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369