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Das Zentrum behauptet sich 199
das viele interessierte Kernphysiker und -physikerinnen anzog, musste das Institut für
Radiumforschung einen materiellen Mehrwert bieten, um Besucher aus dem Ausland
anzulocken.102 Die strategische Verteilungspolitik bewog manchen ausländischen Wis-
senschaftler, der zuvor an einem anderen renommierten Laboratorium gearbeitet hatte,
seine Arbeit in Wien fortzusetzen. Darunter war der Assistent am Physikalischen Ins-
titut der Universität Debrecen, Sándor Szalay, der zuvor am Cavendish Laboratory
tätig gewesen war. Auch der japanische Physiker Ryôkichi Sagane, der ein Jahr an
Lawrences Zyklotron in Berkeley gearbeitet hatte und zu den führenden Köpfen der
Forschungsgruppe um Yoshio Nishina im Forschungszentrum Riken zählte, war im
Frühjahr 1937 Gast des Instituts.103
Nicht nur im Verhältnis mit anderen kernphysikalisch arbeitenden Laboratorien
im In- und Ausland nahm die Konkurrenz um radioaktive Präparate in den 1930er
Jahren zu. Es kam auch innerhalb der Wiener Gruppe zu Rivalitäten. Das Beispiel
Marietta Blaus zeigt, dass diejenigen Mitglieder der Gruppe im Zweifel den Kürzeren
zogen, deren berufliche Situation ohnehin prekär war : Blau, die wie die meisten ihrer
Kollegen und Kolleginnen kein festes Arbeitsverhältnis mit dem Institut für Radium-
forschung hatte, war gezwungen, auch außerhalb des Wiener Wissenschaftsbetriebes
nach Kooperationspartnern zu suchen. Ihre Zusammenarbeit mit der IG Farbenin-
dustrie wurde am Institut für Radiumforschung allerdings nicht belohnt ; die Zu-
gangsmöglichkeiten zu radioaktiven Präparaten für die Forschung blieben begrenzt.
Blau und ihre Mitarbeiterin Hertha Wambacher wandten sich daher, ähnlich wie
Louis de Broglie in Paris, der Höhenstrahlungsforschung zu, um weiter wissenschaft-
lich mit der fotografischen Methode arbeiten zu können. Höhenstrahlungsexperi-
mente erforderten zwar in vieler Hinsicht die gleiche instrumentelle Ausstattung wie
die Neutronenforschung, nicht aber starke radioaktive Präparate.104 Um Protonen
und andere schwere Teilchen nachzuweisen, mussten die Platten vielmehr längere Zeit
in großen Höhen, etwa bei Ballonaufstiegen oder im Gebirge, kosmischer Strahlung
ausgesetzt werden.
102 Eine Aufzählung der wichtigsten Besucher des Cavendish Laboratory findet sich bei Oliphant 1972,
54–56.
103 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 315 : Szalay an Meyer vom 22.12.1936 ; ebd., K
18, Fiche 297 : Sagane an Meyer vom 24.4.1937. Siehe zu Saganes beruflichem Werdegang Low 2006,
280–282. Nishinas Laboratorium war erst 1931 gegründet worden und widmete sich vier relativ neuen
Forschungsfeldern : der Quantentheorie, der kosmischen Höhenstrahlung, der Kernphysik und den bio-
logischen Wirkungen der Radioaktivität. Vgl. Kim 1995, 388.
104 Vgl. Hughes 1997, 338.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369