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Das Zentrum verliert den Anschluss 207
und politische Gründe ebenso wie strategiepolitische Entscheidungen privater Stiftun-
gen führten dazu, dass die Forschung zur subatomaren Struktur der Elemente in Ös-
terreich seit 1931 finanziell sehr viel weniger üppig gefördert wurde als noch in den
1920er Jahren.
Human- und Geldkapital war nach dem Kriegsende 1918 über Ländergrenzen und
Ozeane hinweg ungehindert zirkuliert. Der Geldstrom, von dem kernphysikalisch ar-
beitende Gruppen in Europa und den USA in den 1920er Jahren stark profitiert hat-
ten, wurde mit der Weltwirtschaftskrise 1929 und der darauf folgenden, zunehmend
protektionistischen Außenwirtschaftspolitik der meisten Industrieländer erstmals ge-
bremst. Österreich blieb davon nicht verschont. In Wien zogen sich als erste die schwe-
dischen Stiftungen aus der Förderung der Atomzertrümmerungsforschung zurück, die
in den frühen 1920er Jahren die entscheidende Anschubfinanzierung bereitgestellt
hatten. Der Rückzug der schwedischen Geldgeber hatte in erster Linie wirtschaftliche
Gründe.
Die Weltwirtschaftskrise erfasste Schweden 1930/31, nachdem das Land in den
1920er Jahren einen starken industriellen Aufschwung erlebt hatte. Rapide steigende
Arbeitslosenzahlen versetzten die schwedische Bevölkerung in Aufruhr. Die Regierung
reagierte darauf mit protektionistischen Maßnahmen : 1931 begann sie den internati-
onalen Zahlungsverkehr drastisch zu regulieren und einzuschränken. Auf dem Höhe-
punkt der Krise kam es 1932 zum politischen Umbruch. Die neu ins Amt gewählte
Sozialdemokratische Partei begann unter Führung Per Albin Hanssons mit radikalen
sozialpolitischen Reformen, um die grassierende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und
künftig wirtschaftliches Wachstum zu begünstigen. In einem Klima der wirtschaftli-
chen Depression, in dem sich Regierung und Öffentlichkeit auf die eigenen national-
staatlichen Interessen zurückbesannen, geriet die großzügige Wissenschaftsförderung
schwedischer Mäzene im In- und Ausland auf den Prüfstand. Mehrere kleine Stiftun-
gen stellten daraufhin ihre Zahlungen nach Wien ein, da »besonders in diesen Zeiten
des nationalen Egoismus, zu viel Kapitalexport nach dem Ausland äusserst ungerne
gesehen wird«, wie Hans Pettersson bedauernd an Berta Karlik schrieb.135
Die eingesparten Gelder flossen fortan verstärkt in schwedische wissenschaftliche
Einrichtungen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Hans Pettersson von die-
sem Richtungswechsel erneut profitierte. Pettersson war 1930 auf eine Stiftungsprofes-
sur für Ozeanographie nach Göteborg berufen worden, nachdem seine Bewerbung um
eine Professur für Physik als Nachfolger von Svante Arrhenius an der Stockholmer
Universität gescheitert war.136 Seit seiner Berufung widmete er sich fast nur noch sei-
135 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 46, Fiche 673 : Pettersson an Karlik vom 4.4.1933.
136 Vgl. Rentetzi 2007, Chapter 5, 16, 31.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369