Seite - 211 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Das Zentrum verliert den Anschluss 211
Die Unterhändler der Stiftung suchten zwar auch andere, möglichst junge und aus-
sichtsreiche Kandidaten in den Naturwissenschaften, um sie gezielt zu fördern. Deren
Projekte mussten allerdings mit den neuen Förderschwerpunkten kompatibel sein.146
Schließlich sollten Forscherinnen und Forscher aus Ländern, die als wissenschaftlich
rückständig betrachtet wurden, wie Finnland, die baltischen Staaten, Polen, die Tsche-
choslowakei und Ungarn sowie Spanien und die Balkanländer, in geringem Umfang
Stipendien erhalten. Diese wurden unabhängig von den neuen Förderschwerpunkten
vergeben. Fritz Kohlrausch, der an der TH Graz Raman-Spektren der Moleküle unter-
suchte, war einer der wenigen Physiker in Österreich, dessen Forschungsarbeit weiter-
hin das Interesse der Stiftung fand.147 Und dies, obwohl Graz nicht als relevantes
Zentrum physikalischer Forschung angesehen wurde.148 Wie aber stand es um die
Förderwürdigkeit der Wiener Kernforschungsgruppe und damit die weitere finanzielle
Unterstützung durch die Rockefeller Foundation ?
In Wien stellte die inhaltliche Umorientierung der laufenden Kernforschungsarbei-
ten in Richtung der Lebenswissenschaften, anders als bei Frédéric Joliot in Paris oder
im Bohr’schen Laboratorium in Kopenhagen, aus mehreren Gründen keine Option
dar. Hier hatte die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Medizinern, Physikern,
Chemikern und Biologen, anders als in Paris, keine Tradition, die sich auch instituti-
onell niedergeschlagen hätte.149 Die Suche nach Anwendungsmöglichkeiten der Ra-
dioaktivität in Medizin und Biologie war am Institut für Radiumforschung ausdrück-
lich nicht vorgesehen, was Kooperationen mit anderen Instituten allerdings nicht
ausschloss. So arbeiteten einige Radioaktivisten und Radioaktivistinnen eng mit der
146 Vgl. RAC, RF, RG 3.1, Series 915, Box 1, Folder 1 : Hanson re NS Section - Annual Report vom
18.5.1933.
147 Vgl. RAC, RF, RG 12.1, Box 65, Folder 66–69 : Lauder W. Jones, Memorandums and Trips to Munich,
Vienna, Graz, Salzburg, Venice, Naples, Rome vom 17.5.1932 ; RAC, RF, RG 1.1., Series 705D, Box 2,
Folder 19 : Tisdale an Weaver vom 25.10.1934. Anders als zu jener Zeit im Deutschen Reich spielte die
veränderte politische Situation in Österreich keine Rolle bei den Förderentscheidungen der Rockefeller
Foundation. Die politikferne Haltung der Stiftung zeigt sich darin, dass Kohlrausch an der TH Graz für
seine Arbeiten zum Raman-Effekt bis 1940, also lange nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deut-
sche Reich, Gelder der Rockefellers bekam. Vgl. ebd., RG 1.1., Series 705D, Box 2, Folder 19 : Tisdale
an Kohlrausch vom 8.2.1939.
148 Vgl. RAC, RF, RG 1.1., Series 705D, Box 2, Folder 19 : I.M. an Jones vom 1.5.1931.
149 Die Universität Paris hatte gemeinsam mit dem Institut Pasteur bereits vor dem Krieg ein gemeinsames
Projekt zur Erforschung der Radiotherapie in die Wege geleitet. Auch das 1906 von Armet de Lisle
gegründete Laboratoire Biologique du Radium und Curies Institut du Radium beschäftigten sich mit
biologischer und medizinischer Radioaktivitätsforschung. Die angewandte Radioaktivitätsforschung in
Paris hatte nach dem Krieg durch Spenden US-amerikanischer Wohltätigkeitsorganisationen und der
Union Minière einen starken Impuls bekommen. Vgl. Helvoort 2001, 47. Siehe zur Infrastruktur der
verschiedenen Pariser Institute, die sich interdisziplinär mit der Erforschung und Anwendung der Ra-
dioaktivität befassten Vincent 1997, 293–305.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369