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Das Zentrum verliert den Anschluss 223
gebnisse zu präsentieren und sich mit den im Deutschen Reich arbeitenden Gruppen
auszutauschen. So war man in Österreich wieder auf die eigenen Netzwerke zurückge-
worfen. Doch die im Land vorhandenen Ressourcen reichten kaum, um den Bedarf
auch nur annähernd zu befriedigen.
Während die Zahl der Studierenden und Absolventen im Fach Physik an den Univer-
sitäten Österreichs in den 1930er Jahren unaufhaltsam stieg, verschlechterte sich die
Situation auf dem akademischen Arbeitsmarkt seit den frühen 1930er Jahren drama-
tisch.200 Die Regierung nahm die akute Wirtschaftskrise von 1931 zum Anlass, um die
Stellen für wissenschaftliche Hilfskräfte um ein Drittel zu reduzieren.201 Auch fünf bis
zehn Prozent der außerordentlichen Assistenten sollten entlassen werden. Dabei han-
delte es sich um promovierte oder habilitierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die
vom Bundesministerium für Unterricht besoldet wurden und dem Institutsvorstand
unterstellt waren.202 Wer konnte, suchte sich eine Arbeitsstelle außerhalb der Universität.
Mit dem Assistentengesetz von 1934 verschärfte sich die Situation für den akademischen
Mittelbau noch einmal. Die festangestellten Assistenten verloren ihre Pensionsansprüche
und das Recht, nach einer gewissen Anzahl von Dienstjahren automatisch in den Beam-
tenstand übernommen zu werden. Im akademischen Mittelbau war ein beruflicher
Aufstieg, das heißt die dauerhafte Übernahme in ein besoldetes Dienstverhältnis, nur
möglich, wenn an der betreffenden Fakultät eine Stelle frei wurde.203 Die Wiener Phy-
sikalischen Institute und die dort tätigen Exner-Schüler und -Schülerinnen der dritten
Generation waren von der Kürzungswelle massiv betroffen. Auf eine Anfrage seines
Berliner Kollegen Max von Laue hin schilderte Stefan Meyer die Situation in Wien :
»Was […] die Aussichten einer remunerierten Anstellung betrifft, so sind sie derzeit sehr
gering. Es wird überall nur abgebaut und die Zahl der Assistenten verringert. Wir haben eine
Reihe von Herren aus Wiener Instituten, die ihre Posten verloren haben, die zwar in unseren
Instituten weiterarbeiten, aber von denen wir nicht wissen, wie ihnen einen Lebensunterhalt
zu verschaffen.«204
Auch in den späten 1930er Jahren konnten die wenigen bezahlten Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler am Institut für Radiumforschung angesichts der leeren Kas-
200 Siehe zu ähnlichen Entwicklungen im Deutschen Reich Grüttner 2002, 342–346.
201 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 29, Fiche 396 : Czermak an Rektorat der Universität Wien
vom 27.10.1931.
202 Am Institut für Radiumforschung hatten Hilda Fonovits-Smereker (1919–1923) und Gustav Ortner
(1924–1934) die Position außerordentlicher Assistenten inne. Vgl. Rentetzi 2007, Table 04/4.
203 Siehe Haag 1995, 138.
204 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 243 : Meyer an Laue vom 17.12.1934.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369