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Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 227
Die Regierung Dollfuß, aber auch Dollfuß’ Nachfolger Kurt Schuschnigg, legten
die oberste Priorität darauf, den staatlichen Haushalt zu sanieren und den Außenhan-
del zu stabilisieren.217 Dies war erforderlich, nachdem Österreich 1932 eine neue
Völkerbundanleihe in der Höhe von 300 Millionen Schilling aufgenommen hatte, die
das Land vor dem Staatsbankrott bewahrte. Zu Beginn des Jahres 1933 sahen sich die
Universitätsinstitute mit massiven Kürzungen konfrontiert. Das Bundesministerium
für Unterricht stoppte mit sofortiger Wirkung seine jährliche Sonderdotation in Höhe
von 500 Schilling an das II. Physikalische Institut. Das Institut musste die Kosten des
laufenden Betriebes daraufhin ausschließlich aus den anfallenden Auditoriengeldern
der Studierenden bestreiten.218 Das Institut für Radiumforschung war, obwohl es in
der Trägerschaft der Akademie stand, von der staatlichen Austeritätspolitik ebenfalls
massiv betroffen. Denn das Ministerium senkte auch die Zuschüsse für den Betrieb der
Akademieinstitute sowie die Druckkostenbeihilfen. Die Akademie hatte selbst kaum
Spielraum, um die Kürzungen auszugleichen. Ihr Gesamtvermögen ging, soweit es
Stiftungen in ausländischer Währung betraf, durch die laufende Abwertung der Valu-
ten nämlich ebenfalls zurück. Das Vermögen der Mathematisch-Naturwissenschaftli-
chen Klasse sank zwischen 1932 und 1934 um die Hälfte, nachdem die Republik mit
der Maiverfassung offiziell durch den Bundesstaat Österreich abgelöst worden war.219
In einem Brief an Pettersson klagte Meyer im Frühjahr 1933 : »Wenn es auch mein
Bestreben ist mit allen Mitteln des Radiuminstitutes die Arbeiten der ›Atomzertrüm-
merer‹ zu fördern, so wissen wir eben doch nicht, wie es weitergehen soll.« Meyer be-
fürchtete, »dass hier die wissenschaftliche Forschung ganz unterbunden wird«.220
Es wirkt auf den ersten Blick widersinnig, dass das Bundesministerium für Unter-
richt trotz des rigiden staatlichen Sparkurses 1934 zusagte, die Kernforschungsarbeiten
in Wien weiter finanziell zu unterstützen. Die beiden Sonderdotationen in Höhe von
jeweils 5.000 Schilling für die Jahre 1935 und 1936 überstiegen nicht nur die bisherige
Unterstützung für das II. Physikalische Institut um ein Vielfaches, sie übertrafen auch
die finanziellen Zuwendungen an die übrigen naturwissenschaftlichen Institute des
Landes bei Weitem.221
217 Vgl. Kluge 1984, 107.
218 Vgl. RAC, RF, RG 12.1, Box 65, Folder 66–69 : Lauder W. Jones, Memorandums and Trips to Munich,
Vienna, Graz, Salzburg, Venice, Naples, Rome vom 17.5.1932. Die Dotation des Physikalischen Insti-
tuts der TH Graz war 1932 auf 50 Schilling beziehungsweise neun US-Dollar pro Jahr gekürzt worden.
219 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 2918/15 : Österreichische Aka-
demie der Wissenschaften : Tabelle Staatsdotation 1925–1934.
220 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 283 : Meyer an Pettersson vom 26.4.1933.
221 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 868/4G : Universität Wien, II.
Phys. Inst. und Inst. für Radiumforschung, Subventionierung der Arbeiten auf dem Gebiete der Atom-
zertrümmerung vom 24.11.1934.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369