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Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 229
wurde. Am nachdrücklichsten meldete sich der Leiter des III. Physikalischen Instituts
und notorische Außenseiter unter den Wiener Physikern, Felix Ehrenhaft, zu Wort.229
Er und andere Physiker gaben der Sorge Ausdruck, dass die Wiener Kernforschungs-
gruppe mit tatkräftiger Unterstützung Stefan Meyers das II. Physikalische Institut in
eine »Filiale des Radiuminstituts« verwandeln würden. Ihrem steten Hunger nach
Raum und Material müsse Einhalt geboten werden.230
Ob die Kernforschung eine Verschwendung von anderweitig dringend benötigtem
Personal und Material darstelle, wurde keineswegs nur im wirtschaftlich gebeutelten
Österreich diskutiert. Der Aufruf, die Ressourcen umzuverteilen, war hier durchaus
von eigennützigen Erwägungen gesteuert. Denn die Gegner der Wiener Kernfor-
schung hofften, selbst mehr von dem zu verteilenden Kuchen zu bekommen. Im
Kalkül des Bundesministeriums für Unterricht spielte es keine Rolle, inwieweit die
Ergebnisse der Kernforschung praktisch anwendbar waren. Den Ministerialbeamten
ging es darum, den universitären Lehrbetrieb aufrecht zu erhalten und ansonsten Gel-
der einzusparen, wo dies möglich schien. Ganz anders standen die Dinge in Großbri-
tannien, wo die Diskussion um den praktischen Nutzwert der physikalischen For-
schung bis in die Regierungsebene hinein getragen wurde. Rutherford geriet beispiels-
weise unter Beschuss, weil er das Forschungsprogramm seines Labors nicht genug an
den Erfordernissen der Industrie ausrichtete.231 Kritik kam vor allem aus dem Bera-
terstab des Department of Scientific and Industrial Research (DSIR), dem er selbst
vorstand. Seinem Mitarbeiter Mark Oliphant gegenüber klagte er 1935 : »They have
been at me again, implying that I am misusing gifted young men in the Cavendish to
transform them into scientists chasing useless knowledge.«232
In Wien übernahm 1935 Egon von Schweidler, der seit 1926 das I. Physikalische
Institut leitete, den Vorstand des Vereinigten I. und II. Physikalischen Instituts. Ge-
rade auch in Hinblick auf die Fortsetzung der kernphysikalischen Arbeiten erhoffte
sich Stefan Meyer eine gedeihliche Zusammenarbeit mit seinem Freund und Kolle-
gen :
»Ich bin seitens des Radiuminstitutes ganz besonders daran interessiert, da wir im bisherigen
Jäger’schen Institut eine grössere Anzahl ›seuchenfreier‹ Zimmer für die Atomzertrümme-
229 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 868/4G : Separatvotum Felix
Ehrenhaft vom 10.5.1935.
230 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 868/4G : Friedrich Kottler,
Stellungnahme zu der Neuordnung des physikalischen Unterrichts, undatiert [1935].
231 Siehe zur rhetorischen Funktion des Begriffs Grundlagenforschung und seiner Verwendung durch das
DSIR Clarke 2010.
232 Zitat bei Oliphant 1972, 146.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369