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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945240
Gegen mich und meine Tochter liefen von Seiten der Nazi-Gestapo Haftbefehle bis zum
Kriegsende und wenn sie nicht effektuiert wurden, so war das nur, weil man uns nicht in
Wien fand. Unser Vermögen wurde eingezogen, man hatte uns unsere Wiener Wohnung
weggenommen und was wir an Einrichtungsgegenständen noch besessen hatten haben wir
bei einem Spediteur deponiert. Das Depot wurde zerbombt, was blieb, geplündert. Meine
Pension war auf 400 Mark herabgesetzt worden und davon hatte ich im Monat meinen
7-köpfigen Haushalt zu ermöglichen, zu dem ich meine alte Schwiegermutter und ihre Leute
aufgenommen hatte. Glücklicherweise war uns das Ischler Haus geblieben und hier war alles
leichter. Aber wir haben tatsächlich oft nur von Erdäpfeln und Brennesseln gelebt und von
den Beeren und Schwammerln, die wir aus dem Wald holten. Nun sind alle diese Schreck-
nisse, die verschärft waren durch das fortwährende Zittern davor, wenn der Briefträger oder
ein ›Funktionär‹ kam, vorbei.«18
Von allen Möglichkeiten abgeschnitten, seine Radioaktivitätsforschung fortzuführen,
widmete sich Meyer in Bad Ischl notgedrungen anderen Forschungsfragen.
Seine Freunde und Kollegen, darunter Hans Benndorf in Graz sowie Friedrich von
Lerch in Innsbruck, überstanden die Kriegszeit materiell unbeschadet, doch ihre wis-
senschaftlichen Ergebnisse waren bescheiden. Benndorf durfte nach kurzer Inhaftie-
rung durch die Gestapo als »liberaler Gegner des Nationalsozialismus« weiter in seinem
Institutsbüro arbeiten, erhielt aber nicht die erhoffte Honorarprofessur.19 Lerch war
infolge der hohen Lehrbelastung bereits seit den 1930er Jahren wissenschaftlich wenig
produktiv ; während des Krieges trat er in der Radioaktivitätsforschung kaum noch in
Erscheinung.20
Nur wenigen Mitgliedern des Exner-Kreises gelang es, das nationalsozialistische
Wissenschaftssystem zu ihren Gunsten auszunutzen : Heinrich Mache wurde zwar als
»jüdisch versippt« denunziert21, hochschulpolitisch kaltgestellt und verlor seine eh-
renamtlichen Posten in verschiedenen physikalisch-technischen Gremien.22 Doch
wie schon während des Ersten Weltkriegs richtete er seine Forschungstätigkeit konse-
18 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 176 : Meyer an Blau vom 19.1.1947.
19 Höflechner 1994, 75. Siehe zu den Grazer Forschungsarbeiten Kohlrauschs während des Krieges RAC,
RF, RG 1.1., Series 705D, Box 2, Folder 19 : Kohlrausch an Weaver vom 12.12.1946.
20 Hahn, der im Frühjahr 1942 das Innsbrucker Physikalische Institut besuchte, berichtete Meitner von
der Abwesenheit Lerchs, der sich hauptsächlich der »künstlerischen Photographie« widmete. Vgl. CAC,
MTNR 5/22 A/3 : Hahn an Meitner vom 15.3.1942.
21 Die Diffamierung bezog sich auf den angeblich jüdischen Großvater von Maches Ehefrau, den Geologen
Eduard Suess.
22 Vgl. Archiv der Technische Universität Wien, ab sofort : ATHW, PA Heinrich Mache, P 2604, Bl. 3–4 :
Heinrich Mache, Eidesstattliche Erklärung vom 13.6.1945.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369