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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945246
den deutschen Besatzern war eine Strategie, die insbesondere Frédéric Joliot in den
ersten Jahren der deutschen Besatzung Frankreichs verfolgte, um das kernphysikalische
Forschungspotenzial seines Landes im Hinblick auf die Nachkriegszeit zu erhalten.47
Dementsprechend trafen sowohl das französische Urnormal als auch der alte Wiener
Primärstandard II in weniger als zwei Wochen aus Paris beziehungsweise Brüssel in
Berlin ein.48
Stefan Meyer, der von Berta Karlik und Gustav Ortner – dem seit 1938 zunächst
provisorisch eingesetzten und bald darauf im Amt bestätigten Leiter des Instituts für
Radiumforschung – brieflich auf dem Laufenden gehalten wurde, bat im Sommer
1942 Otto Hahn, bei Weiss in der Streitfrage zu intervenieren.49 Hahn fühlte sich
aber ebenso wenig kompetent, die Wiener Standards gegen die Angriffe der PTR zu
verteidigen, wie Gustav Ortner, der der Kommission nicht angehörte.50 Meyers Au-
torität als Präsident der Internationalen Radiumstandard-Kommission war wegen sei-
nes schwachen zivilrechtlichen Status zu prekär, um mit der PTR persönlich zu verhan-
deln. So konnte er gegen die Pläne Weiss’ letztlich nichts ausrichten. 1943 veröffent-
lichte Weiss seine »vernichtende« Kritik am Wiener Primärstandard in der renommier-
ten deutschen »Zeitschrift für Physik«.51
Die Kritik beeindruckte die Joliot-Curies, die unter dem zunehmend brutalen Be-
satzungsregime des Deutschen Reiches zu leiden hatten. Das Ehepaar zweifelte nicht
daran, dass Weiss die Standards aus Paris und Wien exakt nachgemessen hatte. Des-
halb sei es notwendig, alle greifbaren primären und sekundären Standards in verschie-
denen Labors nachzumessen und auf Fehler zu prüfen. Eine letzte Entscheidung, wie
das Problem abweichender Messwerte zu bewerten sei, müsse ihrer Meinung nach aber
die Internationale Radiumstandard-Kommission nach dem Ende des Krieges tref-
fen.52 Die Vertreter der Union Minière gingen noch einen Schritt weiter. Als »Ar-
beitshypothese« nahmen sie an, dass der Wiener Primärstandard fehlerbehaftet sei. Die
Hönigschmid-Standards aus Paris, Wien und Rom, auf die die Union Minière zugrei-
fen konnte, sollten deshalb in Brüssel nachgemessen werden, um die Ergebnisse von
47 Burrin 1995, 8, 315–322.
48 Es handelt sich um eine außergewöhnlich kurze Zeitspanne, wenn man bedenkt, dass das Pariser Urnor-
mal seit 1912 kein einziges Mal aus Paris entfernt worden war. Vgl. AR-AGR, UM, 259/1072 : Esau an
Union Minière vom 19.2.1941.
49 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 31, Fiche 427 : Meyer an Hahn vom 25.7.1942.
50 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 31, Fiche 427 : Meyer an Hönigschmid vom 1.11.1942.
51 Vgl. Weiss 1943, 7–10, 652–672.
52 Vgl. MC, Fonds commun Joliot-Curie, JC 3 : Comparaisons entre les divers étalons, 1943–1958 : Institut
du Radium, Remarques sur le rapport de C. F. Weiss sur les étalons de radium, undatiert [1943]. Siehe
zur Situation der Joliot-Curies auch Metzler 2000b, 696–697.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369