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Auf der Suche nach neuen Organisationsformen 253
solle dort deshalb mit besonderer Sorgfalt nach fachlichen und weltanschaulichen
Kriterien ausgewählt werden.79
Die Berliner Programmatik wurde in Wien nur zum Teil umgesetzt. Reichsdeutsche
übernahmen vornehmlich in den geisteswissenschaftlichen Fächern Lehrkanzeln, die
durch die Vertreibungen vakant geworden waren.80 In den naturwissenschaftlichen
Fächern kam es anders. Namentlich in den Fächern Physik und Chemie erhielten fast
durchweg österreichische Nationalsozialisten eine Professur, reichsdeutsche Ordinarien
blieben die Ausnahme. Warum ausgerechnet die Naturwissenschaften in österreichi-
scher Hand blieben, lässt sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht mehr
zweifelsfrei rekonstruieren. Da die Besoldung des akademischen Personals und die
Ausstattung der naturwissenschaftlichen Institute in der »Ostmark« weiter deutlich
unter dem Niveau im »Altreich« lagen, war es möglicherweise schwierig, qualifizierte
Kandidaten von außen ernsthaft für eine Professur zu interessieren.81 Die Berufungs-
ergebnisse sprechen in jedem Fall dafür, dass das Dekanat der Philosophischen Fakul-
tät, die NS-Dozentenschaft und die lokalen NS-Parteibehörden in Wien ihre – öster-
reichischen und nationalsozialistischen – Favoriten deshalb durchsetzen konnten, weil
sie einvernehmlich vorgingen und ihre Ziele hartnäckig verfolgten.82 Im Zuge der
Neuordnung der Physikalischen Lehrkanzeln kam es zu einem Generationswechsel, bei
dem die führenden Köpfe der Wiener Kernforschungsgruppe ihren akademischen
Lehrern im Professorenamt nachfolgten.83
Unproblematisch gestalteten sich die Dinge bei Georg Stetter, der im Oktober 1939
zum ordentlichen Professor und Vorstand des kurz zuvor wieder errichteten II. Physi-
kalischen Instituts ernannt wurde.84 Als Anführer der Betriebsgemeinschaft der Physi-
kalischen und Mathematischen Institute der Universität Wien sorgte er dafür, dass die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Fahnenappellen versammelt waren und das
79 BAB, R 4901/13856, Bl. 69–71, 73–74 : Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung
an Reichsamtsleiter des NS-Dozentenbundes vom 4.7.1938.
80 Vgl. etwa die Beiträge von Gohm/Gingrich sowie Nieß in Ash/Nieß/Pils 2010.
81 In diesem Sinne beklagte der Rektor der Universität Innsbruck, Harold Steinacker, im April 1938 den
Mangel an geeigneten auswärtigen Kandidaten. Vgl. BAB, R 4901/13856 : Ernennung und Beförderung
von Hochschullehrern, die dem österreichischen CV angehört haben, undatiert [1940].
82 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 630/4/356698–2,c (1939), Bl. 3 :
Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Wien an Reichsminister für Wissenschaft, Erzie-
hung und Volksbildung vom 5.7.1939.
83 Hier findet sich eine Parallele zu den Generationenumbrüchen im Deutschen Reich 1933. Michael
Grüttner markierte dort die »Machtergreifung als Generationskonflikt«. Grüttner 2002.
84 Vgl. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Berlin Document Center, ab sofort : BAB, BDC, Georg Stetter,
8200003034, Standort 51, Karton A0534 : Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbil-
dung : Mitteilung über Besetzung des freigewordenen Lehrstuhls für höhere Physik an der Universität
Wien, undatiert.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369