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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945256
berg mag die Berufungspraxis an der Universität Wien hingegen abschreckend gewirkt
haben.99 Denn dadurch hatten Personen, die fachlich versiert, aber politisch unauffällig
waren, geringere Chancen auf ein berufliches Fortkommen. Josef Mattauch, der der
gleichen Alterskohorte angehörte wie Stetter, Ortner und Kirsch, wurde in keiner der
in Wien und im Berliner REM zirkulierenden Berufungslisten aufgeführt. Ob dies
damit zusammenhing, dass ihm die erforderliche nationalsozialistische Gesinnung
fehlte, lässt sich aus den Quellen nicht mehr rekonstruieren. Otto Hahn vermutete je-
denfalls in einem Brief an seine einstige Kollegin Lise Meitner, die vor antisemitischer
Verfolgung nach Schweden geflohen war : »Hätte er nicht gegenüber Stetter, Kirsch etc.
einige Mängel [in weltanschaulicher Hinsicht, S.
F.], dann wäre er sicher schon in Wien
festgehalten resp. wiedergeholt worden.«100 Mattauch wurde als Nachfolger Meitners
1941 an das KWI für Chemie in Berlin berufen, wo er bis Kriegsende tätig war. Wäh-
rend die Physikalischen Lehrkanzeln an der Universität Wien nach und nach wieder
besetzt wurden, blieben die beiden Professuren für Physik an der Universität Graz, die
zuvor Erwin Schrödinger und Victor Hess innegehabt hatten, weiter vakant.101
Ähnlich wie in der Physik warf die Wiederbesetzung von Lehrkanzeln im Fachbe-
reich Chemie die bereits in den 1930er Jahren vieldiskutierte Frage auf, wie die physi-
kalische Chemie im Lehr- und Forschungskanon der Wiener Chemischen Institute
gewichtet werden sollte.102 Das Fach hatte nach Einschätzung der Wiener Chemiker
bisher einen zu geringen Stellenwert.103 Die dritte Generation der Exner-Schüler, allen
voran Gerhard Kirsch und Friedrich Hecht, setzten sich sehr dafür ein, den Radioche-
miker Otto Hönigschmid nach Wien zu berufen.104 Damit nahmen sie einen zweiten
Anlauf, ihren Plan aus den frühen 1930er Jahren doch noch in die Tat umzusetzen und
die Wiener Universität mit Hönigschmids Hilfe zu einem »Zentrum der Atomge-
99 Vgl. BAB, R 4901/13197 : Planmäßige Professuren an österreichischen Hochschulen, die seit dem An-
schluss an das Reich freigeworden sind, undatiert [1938–1939].
100 CAC, MTNR 5/22 A/2 : Hahn an Meitner vom 11.8.1941.
101 Vgl. BAB, R 4901/13197 : Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Graz, Liste der Profes-
soren der Philosophischen Fakultät an der Universität Graz, undatiert [1938–1939]. Die Lehrkanzel von
Schrödinger wurde später mit dem aus Jena kommenden Physiker Walter Wessel besetzt. Vgl. ADM,
NL Sommerfeld, NL 89/22 : Rumpf an Sommerfeld vom 3.12.1942.
102 Vgl. UAW, Sonderreihe der Philosophischen Fakultät, Lehrkanzelbesetzung Chemie nach der Pensio-
nierung Marks 1938, PH S/34.39, Bl. 54–61 : Kommissionsbericht über die Besetzung der Lehrkanzel
für Chemie mit besonderer Berücksichtigung der physikalischen Chemie an der Universität Wien vom
26.7.1939.
103 Vgl. BAB, R 4901/13553 : Ludwig Ebert, Über die Aufgaben und Erfordernisse im I. Chemischen Labo-
ratorium der Universität Wien vom 10.1.1940. Siehe auch BAB, NS 15/224 : NS-Dozentenbundführer
an Partei-Kanzlei vom 19.5.1942.
104 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 226 : Hönigschmid an Meyer vom 30.8.1938.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369