Seite - 263 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Auf der Suche nach neuen Organisationsformen 263
und Physiker wieder ungehindert ins Ausland reisen. Gerhard Kirsch nutzte dies für
eine längere Vortragsreise nach Skandinavien, wo er an verschiedenen Universitäten
seine Ergebnisse zur geologischen Zeitmessung mittels der Analyse radioaktiver Mine-
ralien vorstellte.140 Nach dem »Anschluss« hoffte er, als bekennender Nationalsozialist
endlich die notwendigen Mittel von staatlicher Seite zu bekommen, um häufiger zu
ausländischen Tagungen reisen zu können.141
In der wichtigsten Fachvereinigung der deutschsprachigen Physikerschaft, der DPG,
gewannen die österreichischen Vertreter nach dem »Anschluss« an Präsenz. Anders als
in den vorangegangenen Jahren besuchten zahlreiche Wiener Kernphysikerinnen und
Kernphysiker 1938 und in den folgenden Jahren die Jahrestagungen der DPG. Georg
Stetter nutzte 1938 die Gelegenheit, um gemeinsam mit seinen Berliner Kollegen
Herbert A. Stuart und Wilhelm Orthmann sowie dem Königsberger Physiker Wilhelm
Schütz den Ausschluss jüdischer Kolleginnen und Kollegen aus der DPG zu for-
dern.142 Der Druck aus den eigenen Reihen, verstärkt durch das REM, bewog den
DPG-Vorstand im Dezember 1938 dazu, die »jüdischen« Mitglieder um Austritt aus
der Gesellschaft zu bitten.143
Die erleichterten Reisebedingungen führten nun auch dazu, dass Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler häufiger als in den frühen 1930er Jahren aus dem »Altreich«
in die »Ostmark« und speziell nach Wien reisten, um ihre Forschungsergebnisse zu
präsentieren.144 Für die in Österreich Verbliebenen waren die Auflösung internationa-
ler Netzwerke und der Wegfall der damit verbundenen Tauschmöglichkeiten anfäng-
lich kaum zu spüren. Vielmehr schien es, als würden die fehlenden ausländischen
Zuwendungen durch Ressourcen aus dem Deutschen Reich mehr als ausgeglichen.
Nach dem politischen »Anschluss« hofften viele von den reichsdeutschen Behörden
endlich die nötige Unterstützung zu erhalten, um an die internationalen technologi-
schen und wissenschaftlichen Entwicklungen anschließen zu können. Für die Kernfor-
140 Vgl. UAW, PA Gerhard Kirsch, PH PA 2188, Kiste 112, Bl. 92 : Bundesministerium für Unterricht,
Genehmigung einer Vortragsreise in das Ausland von Prof. Dr. G. Kirsch vom 20.1.1938. Im vorange-
gangenen Jahr 1937 war Kirsch und seinem Kollegen Friedrich Hecht die Teilnahme am Internationalen
Geologen-Kongress in Moskau noch verwehrt worden. Vgl. BAB, BDC, DS/G 124 : Gerhard Kirsch,
Friedrich Hecht, Vorschlag zur Schaffung einer Zentralstelle für geologische Zeitmessung vom 3.6.1941.
141 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 630/4/356698–2,c (1939), Bl.
24 : Kirsch an REM, 1939.
142 Vgl. Hoffmann/Walker 2006, 56.
143 Vgl. Wolff 2007, 120–124.
144 Vgl. AMPG, III. Abt., Rep. 45 NL Paneth, Nr. 7/4, Bl. 3 : Meyer an Paneth vom 27.1.1939 ; ÖStA, AdR,
Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen in Wien, K 2/1145 : Stetter an Kurator vom 13.7.1943
und vom 28.2.1944, sowie ebd., K 2/1145 : Kurator der deutschen wissenschaftlichen Hochschulen
vom 22.4.1944.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369