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An der Peripherie des neuen Netzwerks 301
beitet wurde.338 Das Hauptaugenmerk sollte auf der geologischen Zeitmessung durch
die Analyse radioaktiver Materialien liegen. In seinem Arbeitsprogramm vom Mai
1938 formulierte Kirsch das ehrgeizige Ziel, in den Kooperationen mit »England und
den nordischen Ländern […] das Schwergewicht der auf diesem Gebiete nötigen in-
ternationalen Zusammenarbeit nach Deutschland zu verlegen«. Das überzeugendste
Argument für mögliche Geldgeber dürfte jedoch Kirschs Vorhaben gewesen sein, »das
gesamte methodische Arsenal, das ich in meiner Hand zu vereinigen wünsche, in den
Dienst der Rohstoffbeschaffung zu stellen«.339 Wie seine Kollegen suchte er die Un-
terstützung nationalsozialistischer Organisationen und hoffte vor allem, durch seinen
Kontakt mit dem SS-Ahnenerbe an Ressourcen zu gelangen.340
Die Forschungs- und Lehrgemeinschaft Das Ahnenerbe war auf Initiative Heinrich
Himmlers und des niederländischen Philologen Herman Wirth bereits 1935 als priva-
ter Verein gegründet worden. Ziel war es, die Überlegenheit der »arischen Rasse« wis-
senschaftlich zu beweisen. Zugleich diente der Verein der SS als wissenschaftlich-
weltanschauliches Schulungsorgan. Als wissenschaftliches Zentrum der NS-Ideologie
gründete und unterhielt das Ahnenerbe bis zu 45 eigene Forschungsstätten, darunter
auch die Forschungsstätte für Geophysik. Das Ahnenerbe wurde seit 1936 hauptsäch-
lich von der DFG finanziert, daneben verfügte es über Mittel aus dem SS-Etat sowie
über Spendengelder. Eine eigene Stiftung sollte den Verein unabhängiger von öffentli-
chen Geldern machen. Himmler fungierte seit 1937 als Kurator, der Münchener Indo-
Germanist und spätere Rektor der Münchener Universität Walther Wüst war Präsident.
Wolfram Sievers übernahm als Reichsgeschäftsführer von Berlin aus die laufende Or-
ganisation. Als das Ahnenerbe gemeinsam mit dem REM im August 1939 die Salzbur-
ger Wissenschaftswochen veranstaltete, die einem breiteren Publikum »Spitzenleistun-
gen« der deutschen Wissenschaften näher bringen sollten, trat Gerhard Kirsch als
Redner auf.341 Kirsch hatte mit seinen Plänen zunächst keinen Erfolg. Er übernahm
im März 1939 stattdessen die ehrenamtliche Leitung des Gasteiner Forschungsinstituts
und fungierte daneben als kommissarischer Vorstand des III. Physikalischen Instituts
der Universität Wien. Unter Kirschs Ägide wurde die am Institut besonders gepflegte
Balneologie, insbesondere die Untersuchung der radioaktiven Wässer Gasteins, an die
gesundheitspolitische Programmatik und die Kriegsziele des Deutschen Reiches ange-
338 Vgl. Knierzinger 2012, 122–124.
339 BAB, BDC, Kirsch, Gerhard, 21.6.1890, DS/G 124 : Physikalisches Institut der Universität Wien, Pro
memoria, undatiert [Mai 1938].
340 Siehe dazu Kater 2006.
341 Vgl. BAB, NS 21/799 : Festschrift Salzburger Wissenschaftswochen, 23. August bis 2. September 1939,
und BAB, BDC, Kirsch, Gerhard, 21.6.1890, DS/G 124 : Stellvertretender Reichsgeschäftsführer an
Kirsch vom 18.7.1939.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369