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Alliierte Geheimdienste auf den Spuren der Kernforschung in Österreich 309
meisten Wiener Institute bereits aus dem kriegszerstörten Wien ausgelagert wurden,
kam die Alsos-Mission zu dem Schluss, dass Georg Stetter und Willibald Jentschke die
wichtigsten österreichischen Mitglieder des Uranvereins seien. Im Vergleich zu den
führenden Köpfen des Uranvereins, darunter Werner Heisenberg, Paul Harteck, Kurt
Diebner und Walther Gerlach, seien beide aber nur halb so bedeutsam.9
Die Aufgabe der Alsos-Mission vereinfachte sich mit dem Ende des Krieges. In den
US-amerikanischen Besatzungszonen beschlagnahmten Alsos-Mitglieder Forschungs-
unterlagen und internierten und befragten all diejenigen, derer sie habhaft werden
konnten, über ihre Tätigkeit während des Krieges.10 Zwischen Juni und August 1945
suchten US-amerikanische Aufklärungseinheiten die Belegschaften des II. Physikali-
schen Instituts der Universität Wien, des Instituts für Theoretische Physik und des
Vierjahresplaninstituts für Neutronenforschung mehrmals in Thumersbach bei Zell am
See auf. Auch das nach Strobl am Wolfgangsee ausgelagerte Personal der Chemischen
Institute der TU und der Universität Wien wurde geheimdienstlich befragt.
Der Thumersbacher Gruppe gehörten vereinzelte sogenannte »displaced scientists«
an, die von verschiedenen US-amerikanischen Militär- und Aufklärungseinheiten aus
den später sowjetisch, französisch oder britisch besetzten Zonen Österreichs in die US-
Zone verbracht worden waren. Zu ihnen zählte Gerhard Kirsch, der sich mit drei As-
sistenten nach einem kurzen Aufenthalt in Pertisau am Achensee, in der später franzö-
sisch besetzten Zone mitsamt den verbliebenen Apparaturen in Bischofshofen einge-
funden hatte. Kirsch war im Juni 1945 wegen seiner nationalsozialistischen Gesinnung
aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden.11 Alle vier wurden von Unterhänd-
lern des US-amerikanischen Geheimdienstes im Juli 1945 erstmals verhört. Sie ordne-
List of German scientists vom 17.6.1944. Der Autor der Liste stützte sich in seiner Einschätzung sowohl
auf die Auswertung kernphysikalischer Publikationen als auch auf mündliche Hinweise.
9 Vgl. NARA, RG 77, Box 167, Entry 22 : W. A. Shurcliff, Analysis of Importance of Persons and Cities
Mentioned in the «Strassburg Summary” vom 21.2.1945. In dieser Aufstellung wurde die Bedeutung
Stetters und Jentschkes im Hinblick auf das Uranprojekt mit fünf bzw. sechs Punkten bewertet, die von
Berta Karlik und Richard Herzog hingegen mit einem Punkt. Werner Heisenberg, Paul Harteck, Kurt
Diebner und Walther Gerlach erhielten zehn Punkte. Wien wurde mit zwei Punkten bewertet (von zehn
möglichen). Siehe auch die ausführlichen inhaltlichen Informationen über die kernphysikalisch relevante
Tätigkeit österreichischer Physiker während des Krieges in NARA, RG 77, Box 170, Entry 22 : TA Tar-
gets
– German, Section 1 : Introduction, undatiert [29.1.–12.2.1945].
10 Siehe zum Abtransport von Radium sowie Röntgengeräten aus Vorarlberger Krankenhäusern durch fran-
zösische Besatzungsbehörden NARA, RG 77, Box 174, Entry 22 : Memorandum on Austria, Hospital
and Radium Research Institute at Hohenems vom 23.7.1945.
11 Vgl. UAW, PA Gerhard Kirsch, PH PA 2188, Kiste 112, Bl. 144 : Dekanat der Philosophischen Fakultät
der Universität Wien an Landesregierung Salzburg, Amt für Wirtschaft, vom 27.3.1946. Es gelang ihm
nicht, sich beruflich zu rehabilitieren. Er verstarb im Herbst 1956 in Bischofshofen. Vgl. ebd., Bl. 15 :
Notiz über Ableben Kirschs am 15.9.1956 vom 27.4.1972.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369