Seite - 317 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 317 -
Text der Seite - 317 -
Die Alliierten als Arbeitgeber 317
hatte das Land schon in den 1930er Jahren als Bergsteiger bereist. Es ist aber zu be-
zweifeln, dass die Sowjetunion für Schintlmeister, dem als »Humanist […] die Ziele
und Methoden der Faschisten zuwider« gewesen seien, eine geistige Heimat darstellte,
wie zwei seiner Schüler aus der Rückschau annahmen.50 Vielmehr waren für das
einstige NSDAP-Mitglied (seit 1938) die Berufsaussichten im Österreich der frühen
Nachkriegszeit nicht allzu rosig. Als Opportunist, der von jeher nach Möglichkeiten
gesucht hatte, sich »endlich völlig der wissenschaftlichen Laufbahn zu widmen«, ließ
er sich von dem großzügigen Angebot des sowjetischen Geheimdienstes daher leicht
überzeugen.51
Schintlmeister übernahm im Juli 1946 die Leitung einer deutschsprachigen For-
schungsgruppe in einer Uranfabrik nahe Moskau. Nach Informationen des US-Ge-
heimdienstes war er später an Entwicklungsarbeiten für die sowjetische Wasserstoff-
bombe beteiligt, wobei er offenbar an die gemeinsam mit Stetter unternommenen
Versuche aus der Kriegszeit anknüpfte.52 Er kehrte im Frühsommer 1946 noch ein-
mal nach Wien zurück, um seine ehemaligen Kollegen Willibald Jentschke und Ri-
chard Herzog für sowjetische Dienste zu rekrutieren.53 Es gelang ihm nicht, obwohl
Jentschke und eine Reihe seiner Kolleginnen und Kollegen wegen ihrer nationalsozia-
listischen Vergangenheit ebenfalls aus dem Staatsdienst entlassen worden waren und
nach neuen beruflichen Perspektiven suchten.54 Schintlmeister selbst übernahm nach
seiner Rückkehr aus der Sowjetunion 1955 an der TH Dresden einen Lehrstuhl für
experimentelle Kernphysik und leitete seit 1956 den Aufbau des ersten von der Sowje-
tunion gelieferten Zyklotrons der DDR.
Da der sowjetische, französische und schließlich sogar der britische Geheimdienst
fortdauernd Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen abwarben, sahen sich die US-
amerikanischen Besatzungsbehörden im Verlauf des Jahres 1946 gezwungen, umzu-
denken. Um das »denial program« wirksamer zu machen, sollten bis zu 1.000 deutsche
50 ZBP, Rudolf Münze, Dieter Netzband, Rede zur Akademischen Gedenkfeier am 21. Sept. 1971 im Hör-
saal des ZfK Rossendorf anlässlich des Todes von Prof. Dr. phil. habil. Josef Schintlmeister.
51 UAW, PA Josef Schintlmeister, PH PA 3293 Kiste 227, Bl. 10–14 : Schintlmeister, Josef, Erklärung über
meine politische Einstellung und mein Verhältnis zur NSDAP vom 5.12.1945. Schintlmeister soll nach
Informationen der Amerikaner als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Uranfabrik bei Moskau einen
Monatslohn von 12.000 Schilling erhalten haben. Dies war eine enorme Summe, wenn man vergleicht,
dass der durchschnittliche Monatslohn eines Arbeiters in Österreich im Jahr 1946 bei 675 Schilling lag.
Vgl. NARA, RG 77, Box 174, Entry 22 : Memorandum, undatiert [1946 ?].
52 Vgl. NARA, RG 319, Box 31, Entry 134-A : Austrian Watch List, undatiert [1949].
53 Vgl. NARA, RG 77, Box 174, Entry 22 : Interim Report for 1st Sept. 1946, Survey over Intelligence
Aspects of Atomic Energy, undatiert.
54 Vgl. NARA, RG 77, Box 174, Entry 22 : Warner an Shuler vom 3.5.1946. Siehe zu den Entnazifizie-
rungsmaßnahmen Huber 2011, Reiter/Schurawitzky 2005, 238 ; Dussault 2005.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369