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Kernforschung für die Alliierten – ein
Epilog318
und österreichische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vertraglich an die US-
Behörden gebunden werden, wobei ihnen ein Lohn zwischen 60 und 100 US-Dollar
pro Monat in Aussicht gestellt wurde. Mit der Vertragsunterzeichnung verpflichteten
sich die Betreffenden, die US-Zone nicht zu verlassen. Das Mobilitätsverbot sollte so
lange bestehen, bis Angehörige der FIAT die betroffenen Personen hinsichtlich ihres
Wertes für das Projekt Overcast evaluiert haben würden.55 Es blieb jedoch umstritten,
welche Personen unter die neuen Maßnahmen fallen sollten.56
Unterdessen wurde der Ruf aus Industrie und zivilen Forschungseinrichtungen in
den USA nach qualifiziertem deutschen und österreichischen Personal lauter. Das im
März 1946 ins Leben gerufene Projekt Paperclip kombinierte daher das von militäri-
scher Seite betriebene Project Overcast mit einem zivilen Anwerbungsprogramm.57
Eine begrenzte Zahl von Personen erhielt daraufhin die Erlaubnis, in die USA einzu-
reisen, ohne ein Entnazifizierungsverfahren durchlaufen zu haben. Dort sollten sie
entweder im nationalen Interesse oder aus Gründen der nationalen Sicherheit in zivi-
len oder militärischen Projekten tätig werden.58
Von den Wiener Kernforscherinnen und Kernforschern kamen nur wenige für das
Paperclip-Programm in Betracht.59 Darunter war Willibald Jentschke, der 1947 in
die USA auswanderte, 1956 in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehrte und
dort die Leitung des Deutschen Elektronen-Synchrotrons (DESY) in Hamburg über-
nahm.60 Auch der einstige Assistent am Institut für Radiumforschung, Erwin Fi-
scher-Colbrie, der als NSDAP-Parteimitglied in Wien keine Beschäftigungsmöglich-
keit im öffentlichen Dienst fand, und Franz Gundlach, der während des Krieges am
Vierjahresplaninstitut für Neutronenforschung als technischer Assistent gearbeitet
hatte, nahmen eine Beschäftigung in der US-Industrie an.61 Gustav Ortner und
Traude Bernert standen vorübergehend ebenfalls auf der Paperclip-Liste, wurden aber
lediglich für eine zivile Tätigkeit in Betracht gezogen.62 Der Mikrochemiker Fried-
rich Hecht war zeitweilig als potenzieller Kandidat im Gespräch, da die von ihm ent-
wickelte Methode, chemische Analysen auf der Basis geringster Materialmengen
55 Vgl. NARA, RG 319, Box 31, Entry 134-A : Ept on MIS Project vom 17.5.1946.
56 Vgl. NARA, RG 319, Box 221D, XA00181 : Memo on Stetter, Prof. Dr. Georg, undatiert.
57 Vgl. Gimbel 1990, 448.
58 Siehe zu Paperclip Krige 2010, 284–286 ; Herrmann 1999 ; Hunt 1991 ; Gimbel 1990 ; Bower 1988.
59 Vgl. NARA, RG 77, Box 174, Entry 22 : Shuler an Groves vom 12.9.1946.
60 Vgl. NARA, RG 77, Box 174, Entry 22 : Dean an Seeman vom 20.1.1947.
61 Vgl. zu Fischer-Colbrie NARA, RG 319, Box 50, C8041179, und NARA, RG 330, Box 42, Entry 1 B :
JIOA Nr. 315 vom 17.2.1955, und zu Gundlach, NARA, RG 330, Box 59, Entry 1 B : Personal History
Franz Gundlach, undatiert.
62 Vgl. NARA, RG 330, Box 5, Entry 1 : Ford an Frye vom 14.2.1947, und NARA, RG 330, Box 13, Entry
1 B : AC of S, G2, Dept. of the Army, Bernert, Dr. Traude nee Tauschinski, undatiert.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369