Seite - 323 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Schluss 323
Rohstoff, den es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in nennenswertem Umfang nur in
Böhmen gab. Österreich-Ungarn nahm als Radiumproduzent vor dem Ersten Welt-
krieg eine weltmarktbeherrschende Stellung ein, doch nicht alle interessierten Grup-
pen in seinem Herrschaftsbereich erhielten das wertvolle Material. Die Verfügungsge-
walt über große Mengen Radium für wissenschaftliche Zwecke, das in einem komple-
xen Herstellungsprozess aus der Pechblende gewonnen wurde, blieb in der Hand der
deutschsprachigen Forschungsgemeinschaft Österreich-Ungarns. Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen aus den nicht-deutschsprachigen Kronländern der Habsburger-
monarchie gerieten ins Hintertreffen. Benachteiligt wurden auch all diejenigen, die
nicht am lebhaften Tauschhandel mit den Präparaten teilnahmen, der sich von Wien
ausgehend zuerst regional und dann international entwickelte. Mehrere Faktoren ka-
men zusammen, damit sich zunächst und vor allem die in Wien tätigen Naturwissen-
schaftler und Naturwissenschaftlerinnen radioaktive Stoffe in größeren Mengen aneig-
neten.
Es bedurfte einer gut organisierten pressure group, die mit Vertretern der k. k. Berg-
werksverwaltung über den Bezug des wertvollen Gutes verhandeln konnte, ohne selbst
über bedeutende finanzielle Mittel zu verfügen. Denn die Verwaltung war geneigt,
Radium an den Meistbietenden zu verkaufen, um einen wirtschaftlichen Gewinn zu
machen. Die pressure group musste plausible Argumente anführen, um die Ministeri-
albeamten davon zu überzeugen, dass auch die wissenschaftliche Nachfrage zu berück-
sichtigen sei. Junge Physiker aus dem Kreis um Franz Serafin Exner in Wien übernah-
men diese Funktion. Der Exner-Kreis profitierte in besonderem Maße von den Mecha-
nismen der Ressourcenverteilung im akademisch-wissenschaftlichen System der Mon-
archie um die Jahrhundertwende. Wien als das wissenschaftliche Zentrum des Habs-
burgerreiches bot besonders gute Bedingungen für die universitäre und außeruniversi-
täre Forschung, so dass es zahlreiche Nachwuchswissenschaftler und Nachwuchswis-
senschaftlerinnen gab, die sich im innovativen Feld der Radioaktivitätsforschung zu
profilieren suchten. Die von Exner in Wien ausgebildeten Physiker trugen den neuen
Forschungszweig an die deutschsprachigen Universitäten in der Peripherie Österreich-
Ungarns. Die Zugehörigkeit zum informellen, regionalen Netzwerk des Exner-Kreises
ermöglichte es auch Forschern an entlegenen Universitäten, in begrenztem Umfang
radioaktive Präparate sowie Messinstrumente aus Wien zu entlehnen. Die Wiener
Mitglieder des Exner-Kreises pflegten ihrerseits enge Kontakte zur gerade erst im Ent-
stehen begriffenen Radiumindustrie Österreich-Ungarns und sorgten damit für Nach-
schub an radioaktiven Materialien. Im Gegenzug stellten sie der Industrie ihr metrolo-
gisches Know-how zur Verfügung. Das 1910 gegründete Institut für Radiumforschung,
an dem die Präparate für industrielle und wissenschaftliche Zwecke geprüft, gewogen
und offiziell geeicht wurden, entwickelte sich vor dem Ersten Weltkrieg neben Paris,
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369