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Berlin und Manchester zu einem international anerkannten Zentrum der Radioaktivi-
tätsforschung und der radioaktiven Metrologie. Die k. k. Bürokratie hatte, seit Radium
1907 zunächst in Atzgersdorf bei Wien und ab 1909 im böhmischen St. Joachimsthal
industriell erzeugt wurde, ein starkes ökonomisches Interesse daran, dass die Produk-
tion und der Vertrieb radioaktiver Stoffe von Wien aus zentral gesteuert und wissen-
schaftlich begleitet wurden. Dies ermöglichte es, Kontrolle über ein Produkt zu behal-
ten, das vor dem Ersten Weltkrieg auf internationalen Märkten zu astronomisch hohen
Preisen gehandelt wurde.
Mit dem Untergang der Monarchie 1918 ging der direkte Draht zur böhmischen
Radiumindustrie verloren, die tschechoslowakischem Kuratel unterstellt wurde. Es
gelang am Institut für Radiumforschung aber, sich der jungen belgischen Radiumin-
dustrie als wissenschaftliche Beratungsinstanz zu empfehlen. Die belgische Union
Minière stieg 1922 binnen Jahresfrist zum weltgrößten Lieferanten und nahezu zum
Alleinanbieter von Radium auf. Indem Wiener Radioaktivistinnen und Radioaktivis-
ten sich am kolonialen Projekt der Belgier, der Ausbeutung kongolesischer Uranminen,
beteiligten, sicherten sie auch unter schwierigsten Nachkriegsbedingungen den Nach-
schub an natürlichen radioaktiven Strahlungsquellen. Wien blieb damit eine zentrale
Anlaufstelle für die internationale Radioaktivistengemeinschaft, um natürliche Strah-
lungsquellen zu leihen oder zu tauschen. Zugleich herrschten dort gute Voraussetzun-
gen, um mit der Atomzertrümmerungsforschung ein neues Forschungsfeld an führen-
der Stelle zu entwickeln.
So notwendig es gerade in den Anfängen der Radioaktivitätsforschung für die Ak-
teure
– einzelne Forscherinnen und Forscher oder auch Forschungsgruppen
– war, sich
mit der Radiumindustrie gut zu stellen, so sehr bemühten sie sich, ihre industriellen
Kontakte nach außen hin von der wissenschaftlichen Arbeit zu trennen. Indem sich
Radioaktivisten aus Österreich als Wissenschaftler präsentierten, die kein ökonomi-
sches Interesse hegten, erreichten sie zweierlei. Erstens reklamierten sie damit einen
Expertenstatus, der es ihnen ermöglichte, kostenfrei oder zu geringen Preisen an radio-
aktive Präparate zu gelangen. Im Konkurrenzkampf um das knappe und teure Gut
Radium, in dem sie mit anderen, solventeren Interessenten wie zum Beispiel den
Ärzten standen, war dies unerlässlich. Zweitens sorgte der diskrete Umgang mit der
Industrie dafür, den Zusammenhalt der Radioaktivistengemeinschaft zu stärken, in der
ein kaum verhohlener Wettbewerb herrschte. Neue Forschungsergebnisse waren nur
zu erzielen, wenn entsprechend leistungsfähige Strahlungsquellen zur Verfügung stan-
den. Um das internationale Netzwerk handlungsfähig zu halten, durfte der Neid zwi-
schen den Beteiligten nicht zu groß werden.
Die wissenschaftlich-industrielle Verbindung nach Belgien ging verloren, als 1938
wichtige Kontaktpersonen in Wien ihrer Ämter enthoben und vertrieben wurden.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369