Seite - 326 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 326 -
Text der Seite - 326 -
Schluss326
hatten. In aller Regel versorgte das Zentrum Wien die peripheren Standorte Innsbruck
und Graz mit Präparaten, Geräten und Instrumenten sowie mit qualifizierten Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in Wien kein berufliches Auskommen fan-
den. Dieses Muster wurde in den 1930er Jahren erstmals durchbrochen, als das Inns-
brucker Institut für Strahlenforschung Wiener Kernforscherinnen und Kernforschern
temporär eine Anlaufstelle bot, um die kosmische Strahlung zu untersuchen. Nicht-
deutschsprachige Radioaktivistinnen und Radioaktivisten sowie Ärzte aus Österreich-
Ungarn waren von dem Netzwerk, in dem radioaktive Materialien, Instrumente und
Apparate sowie Publikationen zirkulierten, in aller Regel ausgeschlossen. Ihre Möglich-
keiten, die Radioaktivität wissenschaftlich zu erforschen, blieben dementsprechend
gering. Das regionale Netzwerk der Exner-Schüler hatte ungeachtet aller politischen
und wirtschaftlichen Brüche über drei Generationen hinweg bis in die späten 1930er
Jahre Bestand.
Auch international ging es darum, die Vorrangstellung Wiens und die privilegierte
Position der deutschsprachigen Radioaktivistengemeinschaft Österreich-Ungarns im
Wettstreit mit anderen Forschungsgruppen zu sichern. Die vorhandenen Ressourcen
dienten erstens dazu, renommierte Gäste nach Wien zu locken, damit sie die chemi-
schen und physikalischen Eigenschaften des kostbarsten aller radioaktiven Elemente,
des Radiums, vor Ort erforschten. Zweitens wurde ein Teil der radioaktiven Präparate
verliehen oder getauscht, um dadurch indirekt an materielle oder immaterielle Res-
sourcen zu gelangen. Vor dem Ersten Weltkrieg galten dabei die Regeln der »Reputa-
tionsökonomie«. Leihgaben aus Wien erhielt, wer das höchste wissenschaftliche Re-
nommee mitbrachte oder in der Lage war, wissenschaftliche Streitfragen zu klären.
Umgekehrt öffnete das Tauschsystem Forschern und Forscherinnen aus Wien die Tü-
ren ausländischer Laboratorien. Nach dem Ersten Weltkrieg traten die Regeln des
Marktes für kurze Zeit an die Stelle der »Reputationsökonomie«. Radioaktive Präpa-
rate wurden verkauft, um die materielle Not der Nachkriegszeit zu mildern. Seit den
späten 1920er Jahren wurden Präparate gezielt verliehen, um strittige Forschungsfra-
gen im Sinne der Wiener Gruppe klären zu lassen und um sich wissenschaftliche
Konkurrenz vom Leibe zu halten.
Die Präparate aus Wien waren unerlässlich, damit Ernest Rutherford in Cambridge
seiner Forschung eine neue Richtung geben und Lise Meitner in Berlin ihre im Krieg
unterbrochenen Studien fortsetzen konnten. Ihr Materialreichtum sicherte den Grup-
pen in Wien und Cambridge vorübergehend einen internationalen Vorsprung auf dem
neuen Forschungsfeld der Atomzertrümmerung. Um die wissenschaftliche Entwick-
lung maßgeblich mitbestimmen zu können, waren jedoch Geldmittel nötig, die im
krisengeschüttelten Europa der Zwischenkriegszeit kaum ein Staat aufbringen konnte.
Private Mäzene und Stiftungen übernahmen de facto die entscheidenden wissen-
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369