Seite - 330 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 330 -
Text der Seite - 330 -
Schluss330
Nach Kriegsende war das Interesse auf österreichischer Seite groß, an die alten Ver-
bindungen anzuknüpfen, und zwar sowohl zu Kollegen und Kolleginnen im Deut-
schen Reich als auch zu Radioaktivisten und Radioaktivistinnen aus den verfeindeten
Staaten. Indem sie auf die scheinbar politikferne Universalität der (Natur-)Wissen-
schaften verwiesen, suchten sie bestehende politische Dissonanzen zu überdecken be-
ziehungsweise dem nationalistischen Diskurs zu entkommen, den viele ihrer deutschen
Kollegen pflegten.
Auch wenn die Beteiligten dies nicht intendiert haben mögen, war die ungeklärte
kulturelle und politische Identität (Deutsch-)Österreichs überaus förderlich, damit
sich die dortige Radioaktivistengemeinschaft im wieder belebten Netzwerk der inter-
nationalen Radioaktivitäts- und Kernforschung nach dem Krieg neu verorten konnte.
Angesichts der offenkundigen materiellen Not, die im Rumpfstaat Österreich herrschte,
hatten viele der einstigen Kriegsgegner Verständnis, dass Akademiker und Akademike-
rinnen den »Anschluss« an das Deutsche Reich befürworteten. Holländer und Schwe-
den, deren Regierungen im Krieg neutral geblieben waren, hegten besondere Sympa-
thien für das kleine Land Österreich. Anders als ihre reichsdeutschen Kollegen und
Kolleginnen traten die meisten Österreicher auf dem internationalen Parkett zurück-
haltend und diplomatisch auf, was in angloamerikanischen Kreisen, aber auch in
Frankreich positiv aufgenommen wurde.
Nach dem Krieg war die Identität der deutsch-österreichischen Wissenschaftsge-
meinschaft erschüttert, und die Unschärfe im Selbstverständnis trug dazu bei, sich
politisch-kulturell sowohl dem Deutschen Reich als auch anderen europäischen Län-
dern sowie den USA annähern zu können. Radioaktivisten aus Österreich gelang es
schon in den frühen 1920er Jahren, international anerkannt zu werden und die Regeln
der Wissenschaftsgemeinschaft etwa im Bereich der Metrologie mitzubestimmen. Dies
war möglich, weil sie darauf verzichteten, eine offensive, nationalistische Kulturpropa-
ganda zu vertreten. Darin unterschieden sie sich von ihren deutschen Nachbarn, die
halsstarrig darauf beharrten, dass das Deutsche Reich auch künftig eine kulturpoliti-
sche Führungsrolle in Europa und der Welt übernehmen solle. Sie wurden erst in den
späten 1920er Jahren wieder in die internationale Wissenschaftsgemeinschaft aufge-
nommen.
Besonders die Vertreter der älteren Generation, die schon vor dem Ersten Weltkrieg
in internationale Netzwerke eingebunden waren, suchten im Ausland an Ressourcen
zu gelangen, die im verarmten Österreich nicht zu bekommen waren. In der außenpo-
litischen Auseinandersetzung zwischen dem autoritären Ständestaat und dem national-
sozialistischen Deutschen Reich positionierten sie sich eher zurückhaltend. Damit
gerieten sie in ihrer wichtigsten kulturellen und wissenschaftlichen Referenzgemein-
schaft, der deutschsprachigen Physikerschaft, zunehmend an den Rand. Nachdem
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369