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36 miteinander verbunden sind. Oftmals handelt es sich um Episoden, die durch
wiederholtes Erzählen eine feste, anekdotenhafte Form gewonnen haben.82 Diese
Aneinanderreihung von Episoden erfolgt nicht unwillkürlich, denn autobiogra-
fische Erzählungen folgen bestimmten Organisationsprinzipien, die sozial gebil-
det sind. In der Psychologie wird in diesem Zusammenhang vom „memory talk“
gesprochen, mit Hilfe dessen bereits kleine Kinder lernen, wie Erinnerung geformt
und erzählt werden kann. Durch diese Praxis des konversationellen Erinnerns, fer-
ner aber auch durch jedes gelesene Buch und jeden gesehenen Film, hat der/die
Einzelne gelernt, dass eine Geschichte einen Anfang, einen Mittelteil und einen
Schluss hat, sowie dass sie darüber hinaus bestimmten Grundmustern zu folgen
hat, um kommunizierbar zu sein. Diese Grundmuster können beispielsweise an
den klassischen Formen der Komödie, der Tragödie, der Satire oder der Romanze
orientiert sein. Wie die Rolle dieser (im europäischen Raum) klassischen Formen
verdeutlicht, sind die Ausprägungen der narrativen Grundmuster kulturspezifisch
unterschiedlich, weil der Sinn oder Endpunkt, den die Geschichten transportieren,
immer kulturell geprägt ist.83
Zu ebendiesen kulturspezifischen Grundmustern gehört beispielsweise das Zeit-
verständnis. Die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
sowie deren Verhältnis zueinander kann in verschiedenen Kulturen, Milieus oder
sozialen Umfeldern durchaus unterschiedlich sein.84 Ein Beispiel kann Differenzie-
rungen solcherart auch innerhalb der mitteleuropäischen Gesellschaft aufzeigen,
zur Verdeutlichung werden einander in der Folge zwei Extreme gegenübergestellt:
In einem Altersheim erzählt eine alte Frau ihr Leben; sie hat immer gearbeitet.
Gleichzeitig verfasst ein bekannter Politiker seine Memoiren. Er beschreibt sein
Leben als eine Folge von Handlungen, deren zentraler Held er gewesen ist. Der
Politiker versteht sich beim Erzählen seines Lebens nachträglich als Subjekt seines
Lebens, als handelndes Ich, das eine Reihe von Aktionen setzte. Die Geschichte
der Macht des Politikers folgt einem Konzept der linear verstandenen Zeit. Die
alte Frau hingegen erzählt ihr Leben als Rückblick auf Zyklen. Der Basiszyklus
ist der Tag, dann die Woche, der Monat, das Jahr, die Jahreszeiten, das Leben, die
Generationen: Sie versteht ihr eigenes Leben vor allem als einen Tagesablauf in der
Generationenfolge. Ihrer Schilderung liegt ein zyklisches Zeitverständnis zugrun-
de.85 Das zyklische versus das lineare Zeitverständnis sind Grundmuster, die eine
biografische Erzählung sehr stark prägen.
Gerade in ländlichen Untersuchungsgebieten, die von einer vornehmlich agra-
risch geprägten Bevölkerung besiedelt sind – wie das im Montafon bis vor wenigen
Jahrzehnten der Fall war –, spielt das zyklische Zeitverständnis beim autobiogra-
fischen Erinnern und Erzählen eine große Rolle. In bäuerlichen Familien ist hier
sicherlich der Rhythmus der Natur, der direkten Einfluss auf das Leben und Arbei-
82 Haubl: Die allmähliche Verfertigung von Lebensgeschichten. S. 198.
83 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 185f.
84 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 186.
85 Bertaux/Bertaux-Wiame: Autobiographische Erinnerungen und kollektives Gedächtnis. S. 113f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439