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38 Individuum mit seiner eigenen Geschichte und seinen vielen Erzählgeschichten
steht […] natürlich nicht isoliert in der Welt, sondern artikuliert sich als ein Sozial-
wesen in einem sozialen Umfeld. Die Erzählforschung geht daher von einer über-
subjektiven ‚Gemeinsamkeit des Erlebens‘ aus. Der homo narrans wird als Teil
einer ‚Erzählgemeinschaft‘ interpretiert, die sich aus der Gemeinsamkeit des sozi-
alen Erlebens in der Familie und dem Milieu heraus konstituiert.“90 Jede autobio-
grafische Erzählung entsteht insofern also vor dem Hintergrund einer Erzähl- und
Erinnerungsgemeinschaft, die Erinnerungsanlässe schafft, um zu co-memorieren.
Im Extremfall wird, als Auswirkung des Co-Memorierens, das erinnert, was alle
erinnern. Das Entstehen von Erinnerungsstereotypen ist die Folge.91
Ein den Erinnerungsstereotypen verwandtes und auf derselben Basis entstehendes
Phänomen ist das Auftreten von musterhaften Erzählungen. In Anlehnung an den
literaturwissenschaftlichen Begriff der Erzählmuster, der tradierte Strukturen als
Merkmal einer Gruppe von Erzählungen (beispielsweise das Muster der Helden-
tat in mittelalterlichen Erzählungen) meint, soll in vorliegender Arbeit der Begriff
der „Mustererzählung“ eben solche stereotype Strukturen in Bezug auf spezifische
Erzählstoffe benennen. Die Muster dieser Erzählungen sind hier sowohl im Auf-
bau der Geschichten, als auch auf inhaltlicher Ebene festzustellen: Zumeist folgen
sie derselben Logik und zielen auf ähnliche Schlussfolgerungen ab.
Biografische Mustererzählungen zirkulieren besonders innerhalb einer sozia-
len Gruppe, da das Bedürfnis des Individuums nach Gruppenzugehörigkeit die
Aneignung der Muster erzwingt. Diese zirkulierenden Muster liefern den „Rah-
men“ für Lebensgeschichten, der die individuelle Lebensgeschichte kommunika-
tiv anschlussfähig macht. Dieses Phänomen wurde ausführlich am Beispiel von
Glaubensgemeinschaften in den USA aufgezeigt, die an die eigene Entführung
und den Missbrauch durch Außerirdische glauben und in ihrer Beschreibung der
Ereignisse durchgängig denselben Erzählmustern folgen.92 Zu den Merkmalen die-
ser Mustererzählungen zählen beispielsweise ihre große Ähnlichkeit (die aus der
Innenperspektive als Wahrheitsbeleg verstanden wird); die Funktion der Erzäh-
lungen, jene als „Schwindler“ zu entlarven, die diesen Mustern nicht folgen; das
Einsetzen von MultiplikatorInnen mit hohem Prestige (wie etwa JournalistInnen
oder WissenschaftlerInnen), die die Erzählungen außerhalb der Gruppe glaubhaft
vermitteln sollen; die Darstellung der eigenen Erzählungen als gesellschaftliche
Tabus, die gebrochen wurden, was nun durch Misskredit sanktioniert wird; sowie
die Integration jener Personen, die Anschluss an die Mustererzählungen finden.
Diese Merkmale sind für eine Reihe anderer sozialer Erinnerungsgruppen belegt,
wie beispielsweise auch für die Kinder des Zweiten Weltkriegs, deren Erzählungen
90 Lehmann, Albrecht: Homo narrans – Individuelle und kollektive Dimensionen des Erzählens.
In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Erzählkultur. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Erzählfor-
schung. Berlin 2009. S. 59–70. Hier S. 65.
91 Haubl: Die allmähliche Verfertigung von Lebensgeschichten. S. 200.
92 Vgl. Showalter, Elaine: Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien. Berlin 1997.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439