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Geographie, Land und Leute
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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Page - 38 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg

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38 Individuum mit seiner eigenen Geschichte und seinen vielen Erzählgeschichten steht […] natürlich nicht isoliert in der Welt, sondern artikuliert sich als ein Sozial- wesen in einem sozialen Umfeld. Die Erzählforschung geht daher von einer über- subjektiven ‚Gemeinsamkeit des Erlebens‘ aus. Der homo narrans wird als Teil einer ‚Erzählgemeinschaft‘ interpretiert, die sich aus der Gemeinsamkeit des sozi- alen Erlebens in der Familie und dem Milieu heraus konstituiert.“90 Jede autobio- grafische Erzählung entsteht insofern also vor dem Hintergrund einer Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft, die Erinnerungsanlässe schafft, um zu co-memorieren. Im Extremfall wird, als Auswirkung des Co-Memorierens, das erinnert, was alle erinnern. Das Entstehen von Erinnerungsstereotypen ist die Folge.91 Ein den Erinnerungsstereotypen verwandtes und auf derselben Basis entstehendes Phänomen ist das Auftreten von musterhaften Erzählungen. In Anlehnung an den literaturwissenschaftlichen Begriff der Erzählmuster, der tradierte Strukturen als Merkmal einer Gruppe von Erzählungen (beispielsweise das Muster der Helden- tat in mittelalterlichen Erzählungen) meint, soll in vorliegender Arbeit der Begriff der „Mustererzählung“ eben solche stereotype Strukturen in Bezug auf spezifische Erzählstoffe benennen. Die Muster dieser Erzählungen sind hier sowohl im Auf- bau der Geschichten, als auch auf inhaltlicher Ebene festzustellen: Zumeist folgen sie derselben Logik und zielen auf ähnliche Schlussfolgerungen ab. Biografische Mustererzählungen zirkulieren besonders innerhalb einer sozia- len Gruppe, da das Bedürfnis des Individuums nach Gruppenzugehörigkeit die Aneignung der Muster erzwingt. Diese zirkulierenden Muster liefern den „Rah- men“ für Lebensgeschichten, der die individuelle Lebensgeschichte kommunika- tiv anschlussfähig macht. Dieses Phänomen wurde ausführlich am Beispiel von Glaubensgemeinschaften in den USA aufgezeigt, die an die eigene Entführung und den Missbrauch durch Außerirdische glauben und in ihrer Beschreibung der Ereignisse durchgängig denselben Erzählmustern folgen.92 Zu den Merkmalen die- ser Mustererzählungen zählen beispielsweise ihre große Ähnlichkeit (die aus der Innenperspektive als Wahrheitsbeleg verstanden wird); die Funktion der Erzäh- lungen, jene als „Schwindler“ zu entlarven, die diesen Mustern nicht folgen; das Einsetzen von MultiplikatorInnen mit hohem Prestige (wie etwa JournalistInnen oder WissenschaftlerInnen), die die Erzählungen außerhalb der Gruppe glaubhaft vermitteln sollen; die Darstellung der eigenen Erzählungen als gesellschaftliche Tabus, die gebrochen wurden, was nun durch Misskredit sanktioniert wird; sowie die Integration jener Personen, die Anschluss an die Mustererzählungen finden. Diese Merkmale sind für eine Reihe anderer sozialer Erinnerungsgruppen belegt, wie beispielsweise auch für die Kinder des Zweiten Weltkriegs, deren Erzählungen 90 Lehmann, Albrecht: Homo narrans – Individuelle und kollektive Dimensionen des Erzählens. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Erzählkultur. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Erzählfor- schung. Berlin 2009. S. 59–70. Hier S. 65. 91 Haubl: Die allmähliche Verfertigung von Lebensgeschichten. S. 200. 92 Vgl. Showalter, Elaine: Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien. Berlin 1997.
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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Subtitle
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Publisher
StudienVerlag
Location
Innsbruck
Date
2013
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
Size
15.8 x 23.4 cm
Pages
464
Keywords
Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
Category
Geographie, Land und Leute

Table of contents

  1. Vorwort 11
  2. Einführung 13
  3. 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
    1. 1.1. Potenzial und Grenzen des biografischen Interviews 18
    2. 1.2. Entstehung und Funktion von Erinnerungen 22
      1. 1.2.1. Wahrnehmung 22
      2. 1.2.2. Kollektives, kulturelles, kommunikatives, autobiografischesGedächtnis 25
      3. 1.2.3. Erinnerung 29
    3. 1.3. Spezifika von Erzählungen im Rahmen lebensgeschichtlicher Interviews 31
      1. 1.3.1. Vom Erzählen zur Erzählung 32
      2. 1.3.2. Spezifika von Erzählungen im narrativen Interview 34
      3. 1.3.3. Spezifika lebensgeschichtlicher Erzählungen 35
    4. 1.4. Potenzial der Erinnerungserzählungen 42
  4. 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
    1. 2.1. Zur Entstehung des Quellenmaterials 47
      1. 2.1.1. Der Idealtyp des narrativen Interviews und die Praxis 48
      2. 2.1.2. Die Arbeit mit dem erhobenen Quellenmaterial 50
      3. 2.1.3. Statistischer Überblick über die biografischen Interviews 52
    2. 2.2. Erinnerungspraxis und Erzähltradition: Definition und Forschungsziel 55
      1. 2.2.1. Zur Methodik der Auswertung und Analyse 58
      2. 2.2.2. Zur Darstellung der Ergebnisse 60
  5. 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
    1. 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
    2. 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
    3. 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
    4. 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
      1. 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
      2. 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
      3. 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
      4. 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
      5. 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
      6. 3.4.6. Modernisierung 112
      7. 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
      8. 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
      9. 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
      10. 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
      11. 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
      12. 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
      13. 3.4.13. Autoritäten 183
      14. 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
      15. 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
      16. 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
      17. 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
      18. 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
      19. 3.4.19. Repressives NS-System 230
      20. 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
      21. 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
      22. 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
      23. 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
      24. 3.4.24. Gefangenschaft 263
      25. 3.4.25. Heimkehr 268
      26. 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
      27. 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
      28. 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
      29. 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
      30. 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
      31. 3.4.31. Kriegsende 301
      32. 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
      33. 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
      34. 3.4.34. Entnazifizierung 324
      35. 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
      36. 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
      37. 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
      38. 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
      39. 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
      40. 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
      41. 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
      42. 3.4.42. Liebe und Ehe 370
      43. 3.4.43. Geburt der Kinder 381
      44. 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
      45. 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
      46. 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
      47. 3.4.47. Naturkatastrophen 400
      48. 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
      49. 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
      50. 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
  6. 4. Zusammenfassung und Synthese 421
    1. 4.1. Erzählstoffe und Leitlinien 422
      1. 4.1.1. Die 50 Erzählstoffe einer Durchschnittsbiografie 424
      2. 4.1.2. Ein Leben geprägt von Wandel 427
      3. 4.1.3. Arbeit als Lebensthema 428
      4. 4.1.4. Männer- und Frauenerzählungen 429
      5. 4.1.5. Geschichtliches und Lebensgeschichtliches 430
    2. 4.2. Erzählstrukturen und -strategien: Rechtfertigung, Idyllisierung, Vergleich 432
  7. 5. Verzeichnisse und Nachweise 439
    1. 5.1. Liste der anonymisierten ZeitzeugInnen 439
    2. 5.2. Literaturverzeichnis 440
    3. 5.3. Internetquellen 454
    4. 5.4. Abbildungsverzeichnis 454
    5. 5.5. Ortsregister 458
    6. 5.6. Personenregister 461
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