Seite - 39 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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in den letzten Jahrzehnten allerdings gesamtgesellschaftlich große Aufmerksam-
keit erhalten haben.93
Bereits in Kapitel 1.1. wurde auf die These eingegangen, dass ein Interview (wie
jedes andere Gespräch auch) stets ein Artefakt ist, da die Gestalt einer Erinne-
rungserzählung immer von der sozialen Situation abhängig ist, in der sie erhoben
wird. Neben dem von der Persönlichkeit der Betroffenen, der Stimmungslage, der
Art der Gesprächsführung etc. beeinflussten Interview-Setting wirken aber noch
weitere Faktoren auf eine Erzählung. Dass es kulturelle Vorlagen für die narra-
tive Strukturierung gibt, mit deren Hilfe Erinnerungen zu Geschichten werden,
wurde bereits erwähnt. Darüber hinaus müssen Geschichten auf einen sogenann-
ten „werthaltigen Endpunkt“ hinauslaufen, damit sie mitteilenswert sind. Da das
Leben selbst allerdings nicht nach werthaltigen Endpunkten verläuft, werden der
Endpunkt und sein Wert von der die Geschichte erzählenden Person bestimmt.
Aus der notwendigen narrativen Strukturierung der biografischen Erzählung
ergibt sich die Notwendigkeit, bestimmte Teile des Erlebten wegzulassen und
ebenso andere Einzelepisoden zu dramatisieren. Diese Umstände beschreibt fol-
gende Feststellung Harald Welzers recht deutlich: „Das Ereignis ist nicht das, was
passiert. Das Ereignis ist das, was erzählt werden kann.“94
Diese Faktoren verdeutlichen, dass eine biografische Erzählung mithin viel
eher durch die normativen Anforderungen und kulturellen Kriterien für eine
gute Geschichte einerseits, und die Bedingungen ihrer Performanz andererseits,
bestimmt ist, als durch das tatsächlich gelebte Leben.95
Zur Frage, was eine Geschichte „mitteilenswert“ mache, hat Gabriele Michel
den Begriff der „reportability“ aus dem Bereich konversationsanalytischer Unter-
suchungen aufgegriffen und am Beispiel lebensgeschichtlicher Erzählungen unter-
sucht. „Reportability“ meint etwa die „Erzählwürdigkeit“ einer Geschichte: „Wie
muß ein Erlebnis geschaffen sein, um erzählenswert zu sein? Oder muß die Frage
lauten: wodurch wird ein Erlebnis erzählenswert?“96 Michel führt vier Einflussfak-
toren an, die eine Erzählung erzählenswert machen: das Inhaltliche, den interak-
tiven Bereich, die Person des Erzählers und die kulturelle Tradition. Dabei spiele
durchaus die Komponente des Außergewöhnlichen, des Nicht-Alltäglichen eine
Rolle, doch sei nicht nur erzählenswert, was sich quantitativ vom Alltäglichen
abhebt. Denn im Alltag würden nicht nur einmalige Begebenheiten zugelassen,
vielfach würden Geschichten im Gegenteil sogar in (thematisch bestimmten)
Serien erzählt. „Die Entscheidung darüber, ob einem Erlebnis ‚tellability‘ zuge-
sprochen wird, ist oft dadurch mitbestimmt, ob ein benachbartes oder vergleich-
bares Erlebnis sich schon als erzählenswert erwiesen hat.“97 In Bezug auf die eigene
Lebensgeschichte sind für die Erzählenden vor allem jene Ereignisse erzählens-
93 Haubl: Die allmähliche Verfertigung von Lebensgeschichten. S. 202–204.
94 Welzer: Das Interview als Artefakt. S. 55.
95 Welzer: Das Interview als Artefakt. S. 55.
96 Michel: Biographisches Erzählen. S. 32.
97 Michel: Biographisches Erzählen. S. 34.
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439