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ab. Besonders relevant für die Erzählforschung sind Unterschiede in der Anschau-
lichkeit und Lebendigkeit der Texte: Nicht nur Mimik, Gestik und Stimmmodu-
lation tragen dazu bei, auch das spontane Formulieren und besonders die direkte
Übertragung von Emotionen durch die erzählende Person im Moment des Erzäh-
lens machen Erzählungen in dieser Hinsicht besonders wertvoll. Die gehäufte Dar-
stellung von Dialogen in direkter Rede – seien diese konstruiert oder tatsächlich so
verlaufen – sind ein wichtiger kulturwissenschaftlicher Anknüpfungspunkt, wenn
es darum geht die (Selbst-)Darstellung der erzählenden Person zu analysieren. Die
oben angesprochene „individuelle Erlebnisperspektive“ anstelle der „Chronisten-
perspektive“ ermöglicht Einblicke in die Darstellung des persönlichen Erlebens,
in die individuelle Bedeutung des Erzählten, die in kaum einem anderen Setting
bei vergleichbarer Spontaneität und Kommunikativität erzielt werden können. Die
angesprochene höhere Informationsdichte ergibt sich schließlich unter anderem
aus den mehrfachen Ebenen der Kommunikation, auf denen Erzählungen basie-
ren. Dazu zählen etwa Mimik und Gestik, Stimmmodulation sowie auch Pausen
und Sprachrhythmus.
Erinnerungserzählungen eröffnen darüber hinaus auch auf der inhaltlichen Ebene
einen Zugang zu subjektiven Erfahrungs- und Deutungswelten und damit zum
zentralen Komplex der Vorstellungen, Werte und Verhaltensnormen einer Gesell-
schaft.105 Problematisch können autobiografische Dokumente für die Forschenden
nur dort werden, wo sie als (ausschließliche) historische Quelle dienen. Hier sind
jedoch alle Formen lebensgeschichtlicher Erinnerungen in ihrem Quellenwert
sehr kritisch zu beurteilen. Retrospektive Erinnerungen der ZeitzeugInnen sind –
ebenso wie zeitgenössische Quellen – nicht mit der Realität der damaligen Zeit zu
verwechseln. Das ZeitzeugInneninterview sollte, auch in den Geschichtswissen-
schaften, nicht als Quelle dafür betrachtet werden, wie etwas gewesen ist, sondern
wie etwas von heute aus als vergangenes Ereignis wahrgenommen wird.106
Aus eben diesen Deformierungen von Erinnerungen eröffnet sich den Kultur-
wissenschaften zugleich ein wichtiges Forschungsfeld: Ihre Reproduktion in Form
von Erzählungen sowie allgemein den Widerspruch zwischen offizieller Geschichte
und mündlichen Quellen bzw. auch mündlichen Quellen untereinander gilt es, als
Erkenntnisquelle nutzbar zu machen.107 Aus volkskundlich-kulturwissenschaftli-
cher Perspektive ist dabei besonders die Verankerung gesellschaftlicher Vorlagen
im Subjekt von Interesse.108
Insofern sind Erzählungen aus dem Leben selbst dann untersuchenswerte Doku-
mente, wenn ihr „objektiver“ Wahrheitsgehalt zweifelhaft ist. Lehman fordert in
105 Schmidt-Lauber: Grenzen der Narratologie. S. 147.
106 Welzer: Das Interview als Artefakt. S. 61.
107 Leh, Almut: Robert R. lebt. Oder: Was Oral History immer noch leistet. In: Leh, Almut und Lutz
Niethammer (Hg.): Kritische Erfahrungsgeschichte und grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
The networks of Oral History (= BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und
Lebensverlaufsanalysen. Sonderheft 2007) Opladen 2007. S. 180–186. Hier S. 183.
108 Schmidt-Lauber: Grenzen der Narratologie. S. 147.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439