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70 freiheitliche Gruppe gebildet. Wir haben das nicht mehr mit anschauen kön-
nen, wie das damals so veraltet gewesen ist. […]
Eine interessante Facette der Leitlinie zu den Themen Arbeit, Leistung und Errun-
genschaften stellen Erzählungen dar, die das Arbeitscurriculum einer anderen
Person über weite Teile der autobiografischen Erzählung ins Zentrum rücken. In
einigen Interviews ist dies etwa in Bezug auf die Kinder der Fall. Der folgende Aus-
schnitt wurde dem Interview mit der 1930 geborenen BX entnommen.
BX: Damals ist im ganzen Dorf keine Frau gewesen, wo diese Schule aufräu-
men wollte. Da sind noch 100 Schüler gewesen im Dorf. Jede hat vermietet
und jede hat Gäste gehabt. Und jede hat gesagt, ich gehe nicht mehr putzen.
Und ich habe gedacht, ich muss es für diesen Bub haben, um ihm diese Schule
zu ermöglichen. In zweieinhalb Jahren hat er dann die Matura gemacht da
unten. Ein Wahnsinn, oder? In zweieinhalb Jahren, hat er die Matura gehabt.
Dann hat er einen halben Winter beim Lift gearbeitet, weil er konnte dann
ja erst im Herbst auf die Uni. Inzwischen hat der Jüngste das Gymnasium
gemacht in Bludenz. Und weil der eine in Wien gewesen ist, haben sie dann
beide in Wien studiert. Und haben beide […] ohne einmal Wiederholen
durchgezogen. […]
BX macht in diesem Ausschnitt den Zusammenhang zwischen ihren persönli-
chen Entbehrungen, nämlich eine Arbeit zu machen, die sonst niemand im Dorf
machen wollte, und dem Bildungserfolg der Söhne deutlich. Sie, der als Bauern-
tochter eine Ausbildung verwehrt blieb, suchte sich später in ihren Kindern zu
verwirklichen – sowohl ihre eigene Interpretation ihrer Biografie als auch der
Stellenwert, den die Erfolge ihrer Kinder in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung
haben, unterstreichen diesen Zusammenhang. Dabei sind es Leistungen wie der
Abschluss eines prestigeträchtigen Studiums (etwa Rechtswissenschaften), die als
Symbol dafür stehen, dass BX „es geschafft“ hat.
Dass es sich hier um eine Frau handelt, die den Erfolg der Kinder zu ihrem
eigenen macht, ist – zumindest in Hinblick auf das vorliegende Interviewmate-
rial – nicht repräsentativ. Auch einige Männer berichten ausschweifend von den
Karrieren ihrer Kinder. Auch dass eine Frau die Karriere ihres Mannes zwischen-
zeitlich zum Leitfaden ihrer biografischen Erzählung macht, ist zwar unter den 67
Interviews selten vorgekommen, in der Aussagekraft allerdings höchst repräsenta-
tiv für die Möglichkeiten und das Selbstverständnis vieler Frauen der untersuchten
Generationen. Die 1926 geborene WD ist unüberhörbar stolz auf die Tätigkeiten
ihres Mannes VE:
WD: Der VE ist schon 57 Jahre hier, der könnte Ihnen sicher viel mehr
erzählen. Er hat sich sehr für den Schwimmsport eingesetzt. Im Krieg war
er Kampfschwimmer. Die Liebe zum Wasser ist ihm geblieben. Er hat das
Schiffspatent besessen. Er hat als erster Kapitän auf dem Silvrettasee das erste
Schiff gesteuert. Dieses Steuerrad hängt bei uns im Gang, dies hat immer der
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439