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102 Ich habe noch ein altes Bild, wo sie in so einer schwarzen Tracht-Pelerine
und im „Fazanedli“84 und in der „Juppe“85 ist sie gewesen, da hat sie die Eier
zusammen gesammelt. Dann ist sie heraus gefahren mit dem Postauto, oder
viel, viel auch zu Fuß gegangen, weil sie hat bis in Gaschurn oder St. Gallen-
kirch hat sie die Eier zusammen getan. Und dann ist sie am nächsten Tag, wo
sie sie heimgebracht hat, ist sie auf Bludenz gefahren. Ist sie mit dem Zug auf
Bludenz, mit dem ersten, mit dem alten Montafonerbähnli ist sie auf Bludenz
und dort hat sie die Eier für zehn, zwölf Groschen verkauft. Da hat sie oft viele
tausend Eier gehabt. Da hat sie die anderen am Bahnhof unten stehen lassen,
und dann ist sie hinauf – aber das ist natürlich dort, wo jetzt die Sparkasse
ist, oben das Neue aus Glas … Da ist der Montafoner Hof gewesen. Da her-
außen ist das Kreuz gewesen, bei der Post, da hat sie’s verkauft. Und herun-
ten im „Deutschen Haus“ […], ein großes schönes Hotel ist das gewesen, da
hat sie überall ihre Kundschaften drinnen gehabt. […] Und dann ist sie am
Abend heimgekommen und hat ihre Gröschli zusammengezählt. Am Abend
hat sie noch eine Wolle mitgebracht zum Socken Stopfen und ein Stöffli für
eine Schoß86. […] Alles was ein bisschen gegangen ist, hat sie verkauft. Und
hat wirklich … Und in einem kleinen Kämmerli hat sie eine Stellenvermitt-
lung aufgemacht, und da hat sie Hefte gehabt und schön Buch geführt und
alles, da sind dann die „Maiggena“87 und junge Männer sind gekommen, um
Stellen fragen. Und sie hat alles ausgekundschaftet und hat so ihr Geld dazu
verdient. […] Einmal hat sie nur erzählt, da haben ihr ein paar Buben drau-
ßen in Bludenz einen ganzen Korb voll Eier „umg’sperzt“88. Da ist sie fast als
„a-Rearate“89 heimgekommen. Das ist einmal passiert. Das hat sie viele Jahre
gemacht. Viele Jahre ist sie auf den Handel gegangen.
WDs Großmutter ist sicherlich ein Paradebeispiel für eine eifrige, innovative Bäue-
rin. Nicht nur, dass sie ihre eigenen Produkte verkauft, sie betreibt auch aufwändi-
gen Handel mit den Produkten abgelegener Bauern und bietet sogar Dienstleistun-
gen an: Das Wissen über Arbeitsstellen, das sie im Zuge des Eierhandels sammelt,
verkauft sie im Rahmen einer „Stellenvermittlung“ an junge Arbeitssuchende. Wie
WD eingangs erklärt, war die alte Frau zur Innovation gezwungen, da sie einige
Kinder bei sich aufgenommen hatte und diese ernähren und großziehen musste.
WDs Erzählung von der „Ahna“ thematisiert im Kern die Armut und den dar-
aus resultierenden Zwang zur Kreativität. Neben dem Ziel, den Interviewer über
die Umstände in ihrer Kindheit zu informieren, erfüllt die Geschichte auch eine
weitere Funktion: WD ist hörbar stolz auf die Frau, die sie aufgezogen hat, und
würdigt die Leistungen der Großmutter in Form einer ausführlichen Erzählung.
84 Taschentuch, bzw. in diesem Fall: zur Werktagstracht als Halstuch benutztes Kopftuch.
85 Tragmiederrock der Montafoner Werktagstracht.
86 Schürze.
87 Mädchen.
88 umgetreten.
89 eine Weinende.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439