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ren gleich bewirtschaftet als wie tausend Jahre vorher. [unverständlich] hast
du dazu gehabt, man hat geheut, man hat „Büntel“113 eingetragen, man hat
es von Hand gemäht, man hat von Hand „gwällnat“114, man hat von Hand
„kehrt“115. Und die Ställe haben ungefähr gleich ausgeschaut. Und da ist jetzt
in der kurzen Zeit von 30 bis 60 ist das eine brutale Veränderung, hat da
stattgefunden. Da hat es auf einmal hat es Traktoren gegeben. Auf einmal hat
es Mähmaschinen gegeben. Und für den Wald Motorsägen. Also alles total …
also, das kann man sich gar nicht vorstellen. Wenn ich noch denke, damals wo
wir in die Schule gegangen sind, wie es im Winter da zugegangen ist. Da haben
sie das ganze Holz aus dem Silbertal nur auf Schlitten heraus geführt. Da sind
auch meine Onkel, die sind auch jeweils, die haben auch immer vier Pferde
gehabt. Mit je zwei Pferden im Winter hat das immer „gschällnat“116, sind sie
da aus dem Silbertal heraus gekommen. Zum Teil hat man Holz geflözt.
Mit der Aussage „Von 1930 bis 1960 hat sich im Montafon mehr verändert als vor-
her in tausend Jahren“ überspitzt, aber verdeutlicht der Erzähler, was viele andere
ZeitzeugInnen in langen, ausführlichen Beschreibungen darzustellen versuchen:
den immensen technischen und wirtschaftlichen, aber auch sozialen Wandel in
ländlichen Regionen binnen weniger Jahrzehnte.
JJ bemüht sich, seine eigene Lebensgeschichte aus einer gewissen Distanz zu
betrachten und das Phänomen des landwirtschaftlichen Wandels zu fassen. Viele
andere ErzählerInnen wenden eine andere Strategie der Vermittlung an: Sie stei-
gen tief in die Details ein, um quasi rechnerisch die unfassbaren Veränderungen
begreifbar und messbar zu machen. Wie schon QR in einem Beispiel weiter oben
den Preis einer Mähmaschine in Kühen angab, stellt nachfolgend der 1919 gebo-
rene RR beispielsweise den Tageslohn eines Arbeiters dem Butterpreis gegenüber
– und liefert ein vorbildliches Beispiel für eine Lohn-Preis-Geschichte:
RR: Ja, ja, Ende so um 30, 28, 29, 30 sind halt so die Taglöhne sieben und acht
Schillinge gewesen. Und die Butter, am meisten ist sie halt sieben Schillinge
gewesen. Und ist immer, kann man sagen so ein Taglohn gewesen, die Butter.
Immer so nahe um einen Taglohn herum. Heute ist sie noch ein halber Stun-
denlohn, mit 80 Schillingen. Weißt du, das passt nicht mehr. „I tua niamad
nüt vergunna“117, aber dass die Bauern verrecken, und dass es die Jungen nicht
mehr machen, muss man sich nicht wundern. Weißt du. Eben, das ist nur
ein Beispiel. Dann anno 34 hat man schon nur mehr vier Schillinge Taglohn
bezahlt. Und um vier Schillinge hätten sie dir die Türe „ihgsprunga“118, wenn
du es zahlen hättest können. Das weiß ich gut. Und die Butter ist aber da
113 Heubündel, kleine Einheit für Heu.
114 frisch gemähtes Gras zu Heuwällen gerichtet.
115 das Heu gewendet.
116 geklingelt; geläutet.
117 sinngemäß: „Es ist nicht so, dass ich jemandem etwas nicht gönnen würde.“
118 eingerannt.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439