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CDs Erzählung zeigt darüber hinaus deutlich die Diskrepanz auf zwischen
der Notwendigkeit der Arbeit eines Ziegenhirten einerseits und dem geringen
Stellenwert bzw. der geringen Anerkennung andererseits. Als Schulbub war der
„Geißler“ in der Hierarchie der Hirten und des Alpvolks der letzte und wurde zu
allen Arbeiten für nur geringe Entlohnung herangezogen. Ganz entgegen heuti-
gen Anschauungen, die das Wachstum und die Entwicklung Jugendlicher im Blick
haben, wurde einem Buben damals trotz der großen körperlichen Anstrengun-
gen nur das Mindeste an Ruhephasen oder auch Nahrungsmitteln gewährt. Mit
der Bemerkung „Habe gar nicht gewusst, was auf mich zukommt“ weist CD schon
darauf hin, dass die Arbeit eines Ziegenhirten einen Buben vor große Herausfor-
derungen stellte, mit dem vielsagenden Fazit „und habe es auch überlebt“ schließt
er seine Erzählung. Entgegen einigen anderen Darstellungen, die die Erinnerun-
gen an das „Geißlerleben“ leicht idyllisieren, zeigt CD die Schwierigkeiten auf und
erwähnt zuletzt den Preis, den er persönlich für diese Arbeit zahlte: seine schuli-
schen Leistungen wurden bis zum Abschluss zunehmend schlechter.
Der ebenfalls 1934 geborene DW gibt zum Abschluss des Interviews spon-
tan ebenfalls Einblicke in seine Erinnerungen an den Ziegenhirten-Alltag – und
spricht hier die finanzielle Notwendigkeit an, die ihn quasi dazu zwang, diese
Arbeit zu verrichten:
I: Ich bedanke mich recht schön. Es war sehr interessant.
DW: Ja, interessant … für mich ist das nicht so … ich denk mir immer, das
kann nicht wo interessant sein. Aber für das Alter, das man damals gehabt
hat, war es eigentlich eine Leistung. Für das Alter. Wenn ich heute sehe, wenn
ich heute zu einem sage, der elf Jahre alt ist, er muss jeden Tag, fünf Monate
lang mit den Ziegen da hoch … der würde sich bedanken. Und dafür war es ja
eine Leistung. Da ist man oft ganze Tage oben gesessen und hat geweint. Das
kann ich mich noch gut erinnern. In Nebel und schlechtem Wetter, dann hat
man geweint. Ja ja, und so. Und am Abend hat die Mama halt wieder trösten
müssen und sagen, es geht schon. Ich sag ja, für die Mutter war das auch nicht
einfach. Und bei uns ist es jetzt noch einigermaßen ganz gut gegangen, weil
der Opa, der Großvater, die Großmutter auch mitgeholfen haben. Da hat es
noch Leute gegeben, denen ist es wirklich schlecht gegangen.
Dass die Einsamkeit und die körperlichen Anstrengungen vor allem bei schlech-
tem Wetter eine Qual sein konnten für einen jungen Buben, vermittelt DW hier
sehr glaubhaft. Der Erzähler zeigt aber auch auf, dass er keine andere Wahl hatte,
wobei seine Familie im Vergleich zu anderen Familien wirtschaftlich sogar relativ
gut abgesichert war. Der bereits im vorhergehenden Kapitel zur Armut zu Wort
gekommene Erzähler TG erzählt sogar, dass er mehrmals vor lauter Heimweh von
der Herde davonlief, um schließlich von der alleinerziehenden Mutter wieder auf
einer anderen Ziegenhut „verdingt“ zu werden, weil dies für die Familie finanziell
überlebensnotwendig war.
Die Kleidung der Ziegenhirten war zumeist sehr schlecht, wie die meisten Zeit-
zeugInnen berichten. Die Wenigsten waren mit „Knoschpa“, festeren Schuhen mit
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439