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sen, dort wo das „Silbertaler Strößli“ hineingeht, dort, da ist ein Sägili gestan-
den. Da habe ich Morgenschicht gehabt, zu zweit haben wir gesägt. Ich habe
Morgenschicht gehabt, und dieser hat die Abendschicht gehabt. Und es ist ein
Tschaggunser, ein Kollege von mir, ist auf einmal daher gelaufen und sagt
„Hör auf zu sägen, der Hitler ist gekommen. Musst aufhören, sonst könnten
sie dich holen.“ [lacht] Und da habe ich auch aufgehört, am Morgen um sie-
ben. [lacht] Ja, ja, der Hitler. Ja, ja, da hat man im Grunde genommen, hun-
dertprozentig Arbeit gehabt, wie der Hitler gekommen ist. Momentan. Und
dafür hat man dann einrücken müssen.
Während YZ seine Erinnerung als humoristische Anekdote gestaltet, bezieht VV
anschließend an die Erinnerungserzählung kurz Stellung, indem er bemerkt, dass
man im Gegenzug für die bessere Arbeitssituation schließlich einrücken musste.
Auf die individuelle Bedeutung und die Interpretation des „Anschlusses“ an das
Deutsche Reich soll weiter unten im Detail eingegangen werden. Viele Zeitzeug-
Innen bemühen sich, die Ereignisse betont neutral zu schildern. Sie weisen darauf
hin, dass allerorts der Jubel über den „Einmarsch Hitlers“ groß war, und wählen
dafür besonders gerne die Formulierung „Da hat alles ‚Heil Hitler‘ geschrien.“ Die
Euphorie der Bevölkerung hinterließ bei vielen ZeitzeugInnen, die zumeist noch
Kinder oder in jugendlichem Alter waren, den größten Eindruck und prägt als
Bild auch ihre Erzählungen.273 Nur wenige ZeitzeugInnen hingegen erfassten auch
die politische Bedeutung des Ereignisses und verstanden die Beobachtungen, die
sie machten. Der 1925 geborene CY beispielsweise berichtet als einer von wenigen
ZeitzeugInnen, was der 12. März den bislang im Tal politisch Tätigen brachte:
CY: Wo dann der Anschluss gewesen ist … Der ist ja zuerst in Wien ein-
marschiert, und der ist gefeiert worden! Von unseren Nazis. Zuerst haben
sie alle Männer, wo halt noch Österreich ist unterm Schuschnigg, der ist da
noch gewesen, ja. Die haben sie gefasst, und links und rechts haben die ein
Seil halten müssen … Aber von denen … Weißt du, Österreich hat auch eine
militärische Ausbildung gehabt, oder. Und die haben sie alle in einer Reihe,
haben die müssen durch das Dorf „herausfahren“274. Und dann sind noch sol-
che gewesen, die sind dann geflüchtet, denen sind die Nazis nach und die
haben sie dann geschwärzt und geschlagen …
I: Ich habe das jetzt nicht verstanden. Wie? Die haben alle ein Seil gehalten
und was haben die dann gemacht?
CY: Ja, die ganze Reihe von diesen österreichischen Heimatmännern, die von
Österreich gewesen sind, die haben links und rechts ein Seil und einen ganze
Schlange von diesen Männern hat müssen durch das Dorf marschieren. Alles
auf Anschaffen von diesen Erznazi. Weißt du, die Erznazi sind in jedes Haus
273 Schönherr, Margit: Machtwechsel. In: Vorarlberger Landesmuseum (Hg.): Vorarlberg 1938. Aus-
stellung im Rahmen der Veranstaltungen des Gedenkjahrs 1988. Bregenz 1988. S. 71–78. Hier
S. 77.
274 am Seil herausgeführt werden.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439