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208 zialismus allgegenwärtig. Albrecht Lehmann zeigte auf, wie das alte Motiv der
Teufelssagen in Geschichten über die Nazis im Ort auflebt und Bauernführer,
Forstbeamte, Bürgermeister in den Geschichten zu kleinen Hitlers, Unter- oder
Nebenteufel werden.286 Klara Löffler arbeitete auf Lehmann aufbauend am Bei-
spiel lebensgeschichtlicher Erzählungen heraus, wie es in den Darstellungen zu
einer Abkoppelung der Soldaten und des Volkes von „den Nazis“ kommt, die in
generalisierter und dämonisierter Form verantwortlich für Verbrechen, Morde,
und Krieg gemacht werden.287 In EVs Darstellung sind es klar die „Zuchthäusler“,
nämlich „Mörder und minderste Kreaturen“, denen uneingeschränkt die Rolle des
Bösen zukommt und denen implizit ein großer Teil der Verantwortung für das
Ausmaß der Verbrechen überantwortet wird.
Der nachfolgende Ausschnitt, erzählt vom 1927 geborenen JJ, umfasst die – auch
aus historischer Perspektive interessante – Erinnerungserzählung über die Jahre
des Austrofaschismus im Montafon einerseits sowie die Reaktionen der Bevölke-
rung am Tag des „Anschlusses“ andererseits:
JJ: Man muss sich auch das vorstellen, man ist natürlich da herinnen auch
nicht zimperlich umgegangen mit den Leuten. Das ist auch ein totalitäres
Regime gewesen, das muss man dazu sagen. Ich weiß zum Beispiel, die haben
… ja klar, es hat damals schon die Nazis gegeben. Und die Nazis hat es ganz
automatisch gegeben, weil wenn einer da herinnen irgendetwas angestellt hat,
ist er nach Deutschland hinaus und ist dann zur Legion gekommen, hat es
geheißen. Und die Legionäre sind dann auch immer wieder heimlich herein
gekommen und haben dann erzählt, wie das da draußen gut ist. Alles hat
Arbeit, alles und Zeug. Man hat dann, ich weiß dann, auch Hakenkreuze
überall hinauf gemalt, auf Kuhställe und „Gäßschärma“288 hin an die Türen
hin so zum Beispiel. Dann haben sie wieder ein Hakenkreuz vorne an den
Hochspannungsmast auf Rollen getan, dass es mit hinein gerollt ist. Sie sind
ja frech gewesen. Sie hätten ja können bei den Hochspannungen drauf kom-
men und so weiter. Dann ist natürlich das Ganze verunsichert gewesen. Ich
weiß das auch nur, da haben auf dem Kirchenplatz in Schruns mehr als drei
nicht beieinander stehen dürfen. Mehr als drei ist schon eine Zusammenrot-
tung gewesen. Also nach der Kirche ist doch alles beieinander gestanden. Aber
nach dem Gesetz haben nicht mehr als drei beieinander stehen dürfen. Das
hat es gegeben. Und wenn man auch da … Es ist ja unmöglich gewesen, was
sich damals die aufgeführt haben, was sie da gemacht haben. Ich weiß, meine
Mama hat ihrer Schwester […] auch ein Gläschen mit Honig hinauf getan,
in Papier eingepackt. Und das hat sie vor die Haustüre gestellt, am Morgen
bevor sie in die Messe gegangen ist. Und die Gendarmen sind vorbei und
haben gedacht, es wäre eine Bombe. Damals hat man auch schon Bomben
286 Lehmann: Reden über Erfahrung. S. 144.
287 Löffler: Zurechtgerückt. S. 137f.
288 Ziegenställe.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439