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wurde bereits in der Volksschule begonnen. Der 1938 geborene ZZ erinnert sich
an die Schikanen, die eine Lehrerin drei Mädchen zumutete, weil sie nicht richtig
grüßten:
ZZ: Also, wie wir eingeschult worden sind, waren Lehrerinnen. Die Lehrerin
DK. Da muss ich erzählen, aber das 45, da war ja noch Krieg und der Krieg
war schon fertig. Die Franzosen, die Besatzung war schon im Montafon. Und
wenn wir in die Schule mussten, „Heil Hitler“ müssten wir noch … Wenn
wir in die Schule gekommen sind, nicht „Morgen Fräulein“ oder so, der Hit-
ler war die Person. Und eines schönen Morgens sind meine drei Cousinen in
die Schule gekommen und sagten, „Guten Morgen, Fräulein!“ – „Hinaus! Das
heißt ‚Heil Hitler‘!“ Wieder herein gekommen, „Morgen Fräulein“, dann sind
sie wieder hinaus – das weiß ich noch so gut – dann sind sie rein gekommen
und haben gesagt „Heil Hitler“, nur die Hand so. Und am nächsten Tag war
die Lehrerin verschwunden.
Während ZZs Erinnerungserzählung harmlos erscheinen mag, berichten andere
ZeitzeugInnen von regelrechtem Drill und bedingungslosem Gehorsam, der ihnen
in der Schulklasse abverlangt wurde. Militärisch-soldatische Eigenschaften wur-
den als Erziehungsziele hervorgehoben: Kameradschaftssinn, Pflichterfüllung,
Willens- und Entschlusskraft, Härte, Mut, Aufopferungswille und unbedingte
Anerkennung der Autorität.294 Hinzu kam die ideologische Indoktrinierung, die
manche LehrerInnen zum höchsten Unterrichtsziel erklärten, wie der 1933 gebo-
rene CC im nachfolgenden Ausschnitt aufzeigt:
CC: Man hat zum Bespiel in der Schule, als ich in die Schule gegangen bin,
in der Schule haben wir praktisch Schreiben und Lesen haben wir gar nicht
gelernt. Da ist nur der Hitler maßgebend gewesen. Nur immer vom Hitler,
was der Hitler macht. Da hat man immer laufend die Kriegsding vorgebracht
– was er getan hat, was er geleistet hat und was er gewesen ist.
Militärische Vorerziehung, Vorbereitung auf den Krieg und stark gefilterte bzw.
verzerrte Darstellungen über den aktuellen Krieg, aber auch die Ideologie der
„Volksgemeinschaft“ und die Ablehnung vermeintlich minderwertiger Menschen-
gruppen waren wichtige Inhalte des Unterrichts, so geht es auch aus den Erinne-
rungserzählungen der ZeitzeugInnen hervor. Der 1924 geborene IJ erinnert sich
beispielsweise an die Geschichten, die im Unterricht über das Jüdische Volk erzählt
wurden. Die besondere Ironie in IJs Darstellung besteht darin, dass es im Monta-
fon keine JüdInnen gab:
294 Schreiber, Horst: Die Schule im Gau Tirol-Vorarlberg. In: Steininger, Rolf und Sabine Pitscheider
(Hg.): Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit. (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 19)
Innsbruck 2002. S. 151–172. Hier S. 160.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439