Seite - 218 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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218 ganda, Drill oder sogar Angst in den Vordergrund ihrer Erzählungen. Da ein stark
hierarchisches System, das auf dem Recht des Stärkeren als Legitimation für grö-
ßere Macht aufbaut, die weniger Starke verunsichern oder ängstigen muss, kann
den Wenigsten bei dieser Darstellung a priori eine legitimierende Tendenz unter-
stellt werden. Schließlich wirkte aber auch die Propaganda und der Fanatismus
der NationalsozialistInnen – in der HJ häufig repräsentiert durch die FührerInnen
– beängstigend auf die ZeitzeugInnen, besonders angesichts einer bevorstehenden
Niederlage des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg. Der 1935 geborene YZ
erinnert sich an seine Angst vor dem HJ-Führer:
YZ: Das war mit neun … ich glaub das war im Jahr 44, also kurz vor Kriegs-
ende, sind wir, alle Buben unserer Klasse, sind zu den Pimpf, hat man das
genannt. Die junge HJ, das waren die Pimpf. Und früher hat man Uniformen
bekommen, schwarze Samthosen und braune Hemden und Abzeichen und so.
Aber das hat es nicht mehr gegeben, man hat sich dann nur so Abzeichen auf
ein Hemd nähen lassen. Und dann haben wir einmal in der Woche zu einem
Appell antreten müssen. Und da hat ein HL, Fähnleinführer oder wie er sich
genannt hat, hat uns große Vorträge gehalten. Kann mich noch ganz dunkel
erinnern, er war natürlich in Uniform und hat immer so unmögliche Sprüche
gehabt, „Reiß dich zusammen, sonst reiß ich dir den Arsch auf!“ und solche
Geschichten. Und dann hat er erzählt, „die feigen Linzer“, also ich kann das
nur ungefähr sagen, „haben die Stadt nicht ordentlich verteidigt – das Ergeb-
nis: die Russen sind jetzt da. Aber wir werden, wenn Not am Mann ist, auch
das Gewehr in die Hand nehmen!“, zu neunjährigen Buben hat er das gesagt,
„und für Volk und Führer und Vaterland kämpfen!“ Und uns ist schon ganz
anders geworden. Solche Sachen haben wir dann in den Appellen gemacht.
Dann haben wir Geländespiele gemacht. Da hat man so Tücher umgebun-
den gehabt und hat dem anderen das Tuch wegreißen müssen. Das war eine
symbolische Fahne und wer am meisten Fahnen dann gehabt hat, das war der
… das war ja nicht so schlimm, das war ja ganz lustig. Aber an das kann ich
mich so dunkel erinnern. Aber eines war dann interessant, dieser Herr HL,
der hat im Dorf da eine Wohnung gehabt und wie die Franzosen da einmar-
schiert sind, ein paar Tage danach ist ein Rundschreiben an die ganze Bevöl-
kerung gegangen, dass an jedes Haus eine Einwohnerliste angebracht werden
muss. […] und dieser Herr HL, an seinem Haus ist gestanden, HL – weiß
nicht, wie der mit Vornamen geheißen hat, Staatsangehörigkeit Liechtenstein.
Der war schon gar nicht mehr da, der war schon in Liechtenstein. Der große
Vaterlandsverteidiger!
YZs Erzählung hat einen für Geschichten über nationalsozialistische Persönlich-
keiten beliebten, nahezu klassischen Aufbau. Zunächst werden der Fanatismus
und auch die Unmenschlichkeit der Nazis im Zentrum der Geschichte ausführlich
dargestellt. Als sich das Blatt mit dem verlorenen Krieg schließlich wendet, wird
mit gewissem Sarkasmus beschrieben, wie sich der einstige Held als Feigling ent-
puppt und vor dem herannahenden Feind flieht. Im obigen Ausschnitt werden der
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439