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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Seite - 229 -
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229 alles gestohlen worden ist. Kistenweise an Lebensmitteln, und alles was sie gebraucht hätten, im Feld draußen. […] Er ist neun Monate unter der Erde als politischer Häftling eingesperrt gewesen, und ist ausgekommen. Und ist eben fortgekommen. Und von dort weg ist er eben da gewesen und hat ein Zimmer gesucht in Vandans. Und ist von dort weg ein schwerkranker Mann gewe- sen. […] Und an dem ist er auch gestorben. Er hat dann Magendurchbrüche gehabt und Magenblutungen und die MS-Krankheit, die Schüttelkrankheit hat er gehabt. Und ist dann in Rankweil unten 1960 ist er gestorben. An sei- nen Kriegsfolgen ist er eigentlich gestorben. Für seinen Idealismus, wo sowieso alles miteinander … heute kann man nur den Kopf schütteln. Das ist das Glei- che gewesen wie wir in der Schule auch, wir haben überhaupt nichts gewusst. Das hat man doch einfach nicht gewusst! Das hat niemand wissen dürfen, das hat man so gedreht, dass es niemand gewusst hat. Bei diesen Ausschnitten erfolgt der Hinweis auf das eigene oder allgemeine Unwis- sen um die NS-Verbrechen meist in Form eines unmittelbaren Einwurfs in die Erzählung. Besonders groß wird das Bedürfnis der ErzählerInnen, das eigene Unwissen zu beteuern, sobald sie Vorteile oder Freuden während der NS-Zeit erwähnen. Der Hinweis, man habe nichts von den Gräueltaten gewusst, fungiert hier als Rechtfertigung dafür, dass man die Ausbildung zum Segelfliegerpiloten, die Kinderbeihilfe oder die Bergbauernentschuldung sehr wohl annehmen und genie- ßen durfte, weil man ja nicht wusste, welche Verbrechen das Regime zur selben Zeit plante oder durchführte. JQ beschreibt sogar die von ihm beobachteten Zei- chen der JüdInnenverfolgung, rechtfertigt dabei noch die politische Überzeugung seiner Eltern mit der damals grassierenden Arbeitslosigkeit und sucht mit den unschuldigen Beschreibungen seiner kindlichen Beobachtungen zu untermauern, dass er das alles damals nicht verstanden habe und es ihm auch nicht erklärt wor- den sei. Die politische Überzeugung seiner Eltern rechtfertigt er mit einem Hin- weis auf eine allgemein radikale Stimmung, die die Menschen zu entweder linken oder aber rechten FaschistInnen gemacht habe. Auch bei WD steht größtenteils die Verteidigung ihres Vaters im Vordergrund, dessen nationalsozialistische Hal- tung sie mit dem Hinweis auf seinen Idealismus zurechtzurücken versucht. Seine Überzeugungen hätten ihn letztlich (durch die eigenen Leute) sein Leben gekostet, was für WD das politische Engagement für eine Sache „über die man heute nur den Kopf schütteln“ könne, quasi ausgleicht. Abschließend beteuert die Erzählerin immer wieder, dass „man“ – sie meint hier wohl nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Vater – „einfach nichts gewusst“ habe. Es ist auffallend, dass in jenen Erzählungen, die ausdrücklich das Unwissen über die NS-Verbrechen für sich beanspruchen, seitens der ErzählerInnen kaum eine Distanzierung zum Nationalsozialismus und seinen Idealen erfolgt. Wenn die Möglichkeiten, die jungen Menschen oder verschuldeten Bergbauern etc. geboten wurden, oder der Idealismus des überzeugt nationalsozialistischen Vaters in den Erzählungen lobend erwähnt werden, und gleichzeitig betont wird, niemand habe gewusst, dass und in welchem Ausmaß Menschen verfolgt wurden, so kommt es
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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Titel
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Untertitel
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Verlag
StudienVerlag
Ort
Innsbruck
Datum
2013
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
Abmessungen
15.8 x 23.4 cm
Seiten
464
Schlagwörter
Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
Kategorie
Geographie, Land und Leute

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 11
  2. Einführung 13
  3. 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
    1. 1.1. Potenzial und Grenzen des biografischen Interviews 18
    2. 1.2. Entstehung und Funktion von Erinnerungen 22
      1. 1.2.1. Wahrnehmung 22
      2. 1.2.2. Kollektives, kulturelles, kommunikatives, autobiografischesGedächtnis 25
      3. 1.2.3. Erinnerung 29
    3. 1.3. Spezifika von Erzählungen im Rahmen lebensgeschichtlicher Interviews 31
      1. 1.3.1. Vom Erzählen zur Erzählung 32
      2. 1.3.2. Spezifika von Erzählungen im narrativen Interview 34
      3. 1.3.3. Spezifika lebensgeschichtlicher Erzählungen 35
    4. 1.4. Potenzial der Erinnerungserzählungen 42
  4. 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
    1. 2.1. Zur Entstehung des Quellenmaterials 47
      1. 2.1.1. Der Idealtyp des narrativen Interviews und die Praxis 48
      2. 2.1.2. Die Arbeit mit dem erhobenen Quellenmaterial 50
      3. 2.1.3. Statistischer Überblick über die biografischen Interviews 52
    2. 2.2. Erinnerungspraxis und Erzähltradition: Definition und Forschungsziel 55
      1. 2.2.1. Zur Methodik der Auswertung und Analyse 58
      2. 2.2.2. Zur Darstellung der Ergebnisse 60
  5. 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
    1. 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
    2. 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
    3. 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
    4. 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
      1. 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
      2. 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
      3. 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
      4. 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
      5. 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
      6. 3.4.6. Modernisierung 112
      7. 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
      8. 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
      9. 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
      10. 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
      11. 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
      12. 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
      13. 3.4.13. Autoritäten 183
      14. 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
      15. 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
      16. 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
      17. 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
      18. 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
      19. 3.4.19. Repressives NS-System 230
      20. 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
      21. 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
      22. 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
      23. 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
      24. 3.4.24. Gefangenschaft 263
      25. 3.4.25. Heimkehr 268
      26. 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
      27. 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
      28. 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
      29. 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
      30. 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
      31. 3.4.31. Kriegsende 301
      32. 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
      33. 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
      34. 3.4.34. Entnazifizierung 324
      35. 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
      36. 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
      37. 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
      38. 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
      39. 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
      40. 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
      41. 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
      42. 3.4.42. Liebe und Ehe 370
      43. 3.4.43. Geburt der Kinder 381
      44. 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
      45. 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
      46. 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
      47. 3.4.47. Naturkatastrophen 400
      48. 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
      49. 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
      50. 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
  6. 4. Zusammenfassung und Synthese 421
    1. 4.1. Erzählstoffe und Leitlinien 422
      1. 4.1.1. Die 50 Erzählstoffe einer Durchschnittsbiografie 424
      2. 4.1.2. Ein Leben geprägt von Wandel 427
      3. 4.1.3. Arbeit als Lebensthema 428
      4. 4.1.4. Männer- und Frauenerzählungen 429
      5. 4.1.5. Geschichtliches und Lebensgeschichtliches 430
    2. 4.2. Erzählstrukturen und -strategien: Rechtfertigung, Idyllisierung, Vergleich 432
  7. 5. Verzeichnisse und Nachweise 439
    1. 5.1. Liste der anonymisierten ZeitzeugInnen 439
    2. 5.2. Literaturverzeichnis 440
    3. 5.3. Internetquellen 454
    4. 5.4. Abbildungsverzeichnis 454
    5. 5.5. Ortsregister 458
    6. 5.6. Personenregister 461
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