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alles gestohlen worden ist. Kistenweise an Lebensmitteln, und alles was sie
gebraucht hätten, im Feld draußen. […] Er ist neun Monate unter der Erde als
politischer Häftling eingesperrt gewesen, und ist ausgekommen. Und ist eben
fortgekommen. Und von dort weg ist er eben da gewesen und hat ein Zimmer
gesucht in Vandans. Und ist von dort weg ein schwerkranker Mann gewe-
sen. […] Und an dem ist er auch gestorben. Er hat dann Magendurchbrüche
gehabt und Magenblutungen und die MS-Krankheit, die Schüttelkrankheit
hat er gehabt. Und ist dann in Rankweil unten 1960 ist er gestorben. An sei-
nen Kriegsfolgen ist er eigentlich gestorben. Für seinen Idealismus, wo sowieso
alles miteinander … heute kann man nur den Kopf schütteln. Das ist das Glei-
che gewesen wie wir in der Schule auch, wir haben überhaupt nichts gewusst.
Das hat man doch einfach nicht gewusst! Das hat niemand wissen dürfen, das
hat man so gedreht, dass es niemand gewusst hat.
Bei diesen Ausschnitten erfolgt der Hinweis auf das eigene oder allgemeine Unwis-
sen um die NS-Verbrechen meist in Form eines unmittelbaren Einwurfs in die
Erzählung. Besonders groß wird das Bedürfnis der ErzählerInnen, das eigene
Unwissen zu beteuern, sobald sie Vorteile oder Freuden während der NS-Zeit
erwähnen. Der Hinweis, man habe nichts von den Gräueltaten gewusst, fungiert
hier als Rechtfertigung dafür, dass man die Ausbildung zum Segelfliegerpiloten, die
Kinderbeihilfe oder die Bergbauernentschuldung sehr wohl annehmen und genie-
ßen durfte, weil man ja nicht wusste, welche Verbrechen das Regime zur selben
Zeit plante oder durchführte. JQ beschreibt sogar die von ihm beobachteten Zei-
chen der JüdInnenverfolgung, rechtfertigt dabei noch die politische Überzeugung
seiner Eltern mit der damals grassierenden Arbeitslosigkeit und sucht mit den
unschuldigen Beschreibungen seiner kindlichen Beobachtungen zu untermauern,
dass er das alles damals nicht verstanden habe und es ihm auch nicht erklärt wor-
den sei. Die politische Überzeugung seiner Eltern rechtfertigt er mit einem Hin-
weis auf eine allgemein radikale Stimmung, die die Menschen zu entweder linken
oder aber rechten FaschistInnen gemacht habe. Auch bei WD steht größtenteils
die Verteidigung ihres Vaters im Vordergrund, dessen nationalsozialistische Hal-
tung sie mit dem Hinweis auf seinen Idealismus zurechtzurücken versucht. Seine
Überzeugungen hätten ihn letztlich (durch die eigenen Leute) sein Leben gekostet,
was für WD das politische Engagement für eine Sache „über die man heute nur
den Kopf schütteln“ könne, quasi ausgleicht. Abschließend beteuert die Erzählerin
immer wieder, dass „man“ – sie meint hier wohl nicht nur sich selbst, sondern auch
ihren Vater – „einfach nichts gewusst“ habe.
Es ist auffallend, dass in jenen Erzählungen, die ausdrücklich das Unwissen über
die NS-Verbrechen für sich beanspruchen, seitens der ErzählerInnen kaum eine
Distanzierung zum Nationalsozialismus und seinen Idealen erfolgt. Wenn die
Möglichkeiten, die jungen Menschen oder verschuldeten Bergbauern etc. geboten
wurden, oder der Idealismus des überzeugt nationalsozialistischen Vaters in den
Erzählungen lobend erwähnt werden, und gleichzeitig betont wird, niemand habe
gewusst, dass und in welchem Ausmaß Menschen verfolgt wurden, so kommt es
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439