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ErzählerInnen als Kavaliersdelikt verstanden wird, von dem sie gerne und aus-
führlich erzählen. Wo derlei illegale Handlungen nicht als „Widerstand“ inszeniert
werden, da herrscht bis heute die (vermutlich auch damals dominierende) Mei-
nung vor, dass die Abgabenpflicht der LandwirtInnen quasi einen Raub an ihrem
Eigentum darstellte und ein Unterschlagen so gesehen mehr als gerechtfertigt war.
Einen völlig anderen Bereich illegaler Praxis, der gelegentlich auch als Akt des
Widerstandes präsentiert wird, stellt das Konsumieren illegalisierter, weil zumeist
ausländischer Medien dar. Besonders das Radio spielte eine große Rolle als eine
der wenigen Möglichkeiten, mittels ausländischer Sender Informationen abseits
der nationalsozialistischen Propaganda über die Lage im Deutschen Reich zu
bekommen. Diese Information war nur jenen zugänglich, die ein Radiogerät besa-
ßen – und schließlich war die Angst, beim Hören von „Feindsendern“ erwischt zu
werden, sehr groß. Das Risiko wurde mit zunehmender Dauer des Krieges immer
häufiger auf sich genommen, da das Bedürfnis nach Information über die tatsäch-
lichen Vorgänge an der Front stieg. Aufgrund der räumlichen Nähe und des guten
Empfangs wurden im Montafon gerne Schweizer Sender gehört. Dabei kam es
mitunter zu etwas bizarren Situationen, wenn etwa Ziegenhirten im Rahmen des
historischen, längst nicht mehr praktizierten bäuerlichen Rechts der „Rot“ beim
Besitzer der gehüteten Ziegen nächtigten und hier über die Neuigkeiten an der
tausende Kilometer entfernten Ostfront informiert wurden. Der 1934 geborene
CD erzählt:
CD: Und eben auch unter anderem beim Ziegenhüten habe ich auf die „Rot“331
gehen müssen. Und dann habe ich bei einem Mann geschlafen. Das ist der
Fridolin Vonier gewesen „i dr Mura“332. Und der hat damals immer schon …
ein „Schwarzhörer“ ist der gewesen. Und der hat immer „da Schwiezr“333 am
Abend gehört. Und der Schweizer hat am Abend ab acht hat er immer Kriegs-
berichte über die Deutsche Front in Russland gebracht. Und dann hat der
gesagt: „Jetzt haben sie im Radio gesagt, sie seien so und so weit drinnen, die
deutschen Truppen, währenddessen sind sie schon 100 km weiter heraußen
gewesen.“ Der Schweizer hat den Tatsachenbericht gebracht. Der hat die rus-
sischen Berichte auch abgehört, wahrscheinlich. Und der Hitler ist aber immer
noch auf Siegeszügen gewesen, wo er schon im Rückmarsch gewesen ist. Und
der Mann hat dann fast mit Angst abgehört. Er hat immer gesagt: „I säg dr
des, Gäßlr, tua mr jo niamad nüt verzella, sos speran sie üs bedi i, und bedi
bringan sie üs om.“334 Und da habe ich mich nicht getraut „z’mucksa“335. Ich
331 Rot, die: Organisationssystem zur Abgeltung der Ziegenhut. Für jedes Tier hatte der Ziegenhirt
das Recht auf ein bestimmtes Ausmaß an Kost und Logis bei den ZiegenbesitzerInnen. Die Inan-
spruchnahme dieses Rechts wurde als „Rot“ bezeichnet.
332 Mauren; Ortsteil von Schruns.
333 den Schweizer Sender.
334 Ich sag dir das, Ziegenhirte, erzähl niemandem etwas, sonst sperren sie uns beide ein und brin-
gen uns um.
335 mich zu rühren.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439