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254 Russen von hinten gekommen. Jetzt hat man jedes Loch ansehen müssen, halt,
dass man sicher gewesen ist, dass da keiner drinnen ist. Und da ist so ein Loch
gewesen, vielleicht zwei Meter lang und vielleicht so hoch. Und da ist einer da
gehängt, ein Toter. Ich hab eine MG gehabt und hab mit dem Lauf der MG am
Kopf gestoßen, dann ist er auf und wieder zurück gewippt. Währenddessen
schau ich ins Loch rein und dann hat der da hinten drinnen ein Loch gemacht
gehabt – das ist so ein sandiger Boden, ganz gut zum Graben. Da hat der
einen Stollen rein gemacht gehabt. Der hat einen Bart gehabt und hat gerade
hinauf geschaut. Und das Gewehr von ihm ist da auf dem Rand oben gelegen.
Und ich geh ein paar Schritte zurück, anstatt, dass ich das Gewehr wegge-
worfen hätte! Aber der Gruppenführer hat das auch gesehen und hat gleich
eine Handgranate rein geworfen. Und der Russe hat noch das Gewehr hinein
gezogen vom Rand. Ist einen Sprung hinauf und hat das Gewehr geholt. Der
Gruppenführer hat das in dem Moment gesehen. Aber der ist dann schon erle-
digt gewesen. Der ist mir danach als ich im Lazarett gewesen bin im Traum
oft einmal erschienen, dieser Russe. Weil der mich angeschaut hat. […]
I: Und kommt die Erinnerung noch oft in den Kopf?
UU: Nein. Ich denk, leck mich am Arsch. Ich hab auch schöne Jahre gehabt.
Und ab und zu lachen können und eine Freude gehabt am Leben. Nein, ich
bin zufrieden. Und jetzt mach ich halt mit ein paar … weißt du, die Leute sind
auch unterschiedlich. Ich würde ja alle Wochen so ein Fest machen [lacht].
Dieser Ausschnitt ist einer der wenigen im untersuchten Quellenmaterial, in dem
von einem Zeitzeugen das Töten des Feindes direkt beschrieben wird. Was im
Krieg und besonders an der Front an vielen Tagen im Krieg das eigentliche Ziel
war, nämlich das Töten, bleibt in den Kriegserzählungen fast immer unerwähnt.
Anzunehmenderweise handelt es sich hierbei um ein Tabu, das in einer Erzählsitu-
ation im 21. Jahrhundert sowie InterviewerInnen gegenübersitzend, die der Enkel-
generation angehören nicht gerne angesprochen wird. UU überwindet das Tabu,
indem er sich selbst als jung und unvorsichtig beschreibt und in seiner Darstellung
dem Gruppenführer das Töten des russischen Soldaten überlässt. Schließlich kehrt
UU wieder zu seiner humorvollen Haltung zurück, indem er seinen Umgang mit
derlei Erlebnissen bekundet: sich an den schönen Jahren zu freuen und bei jeder
Gelegenheit das Leben zu feiern.
Andere Aspekte psychischer Belastung im Krieg stellen Tod und Verwundung der
Kameraden dar, die an der Front in nächster Nähe zu Tode gekommen oder schwer
verletzt worden sind. Der 1907 geborene PP erzählt im nachfolgenden Ausschnitt,
wie in Frankreich ein Kamerad direkt neben ihm durch eine Handgranate getötet
wurde:
PP: Ja, und danach haben dann die Franzosen hergeschossen, und da haben
sie zu kurz geschossen. Also, sagen wir, wie wenn sie jetzt von Bludenz oder
von Lorüns hereinschießen täten da, und da ist am Bartholomäberg oben
ein Posten, der schaut, wie weit dass sie schießen. Wenn die da auf Tschag-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439