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256 diese sich allmählich zur oben dargestellten Version verfestigt hat. Auch bei dieser
Anekdote gerät der Erzähler selbst in keine moralisch fragwürdige Situation. Er ist
in der Situation des Angriffs ein potenzielles Opfer, kämpft um sein Leben und hat
Glück, während sein Nebenmann das Leben verliert.
Die Frage der Moral wird hier höchstens in Bezug auf den „Kompaniechef“
gestellt, der sich von den Soldaten ein Loch ausheben ließ, in dem er sich ver-
steckte, während zahlreiche andere ums Leben kamen, und anschließend sogar
ausgezeichnet wurde. Wie im bereits dargestellten Beispiel vom fanatischen
HJ-Fähnleinführer, der sich angesichts der bevorstehenden französischen Besat-
zung ins Ausland absetzte, folgt auch PPs Darstellung dem Topos, dass die größten
Nationalsozialisten im Kern Feiglinge gewesen seien.
Ein weiterer Erzählstoff ist vor allem deshalb psychisch belastend – bzw. provoziert
Rechtfertigungsgeschichten geradezu –, weil er heute als das Verbrechen der Nati-
onalsozialistInnen schlechthin gut dokumentiert und aufgearbeitet ist und es hier
für die ErzählerInnen wenig zu rechtfertigen oder zu beschönigen gibt: Die Berei-
cherung am Besitz, die Verfolgung und nicht zuletzt die Ermordung der jüdischen
Bevölkerung wird nur in sehr wenigen Interviews von selbst angesprochen. Einer
der Gründe dafür liegt sicher im Nicht-Vorhandensein jüdischer EinwohnerInnen
im Montafon. Andere Gründe sind neben der persönlichen Einschätzung, damit
selbst gar nichts zu tun gehabt zu haben, Unsicherheiten beispielsweise in Bezug
auf mögliche Vorwürfe jüngerer Generationen. Auf diese Thematik soll in einem
späteren Kapitel noch im Detail eingegangen werden.
Der 1912 geborene NN ist einer der wenigen ZeitzeugInnen, der den Erzähl-
stoff des jüdischen Genozids von sich aus – nämlich im Rahmen seiner Kriegs-
erzählung über den Polenfeldzug – anspricht. Im vorangegangenen Gespräch
beschrieb NN den Antisemitismus in Wien, wie er ihn erlebte, um anschließend
seine Erinnerungen an die Ereignisse in Polen wiederzugeben:
NN: In Polen unten ist es ja auch so gewesen … Wir Gebirgstruppe, wir
haben ihnen [den Juden, Anm.] ja nichts getan. Wir haben wohl die Synago-
gen besetzt und haben sie arbeiten lassen. Straßenbau, Holz machen, in der
Küche. Lauter so Zeug halt. Nichts getan. Und dann ist die SS gekommen, und
dann haben sie sie alle geholt. Sehr hart, hinauf auf den Wagen und fort auf
Nicht-mehr-Wiedersehen. Wie halt die Judenverfolgung vor sich gegangen ist.
Ja, also wir haben nichts … Ja, wie ich gesagt habe, arbeiten haben sie müssen
und etwas tun.
I: Können Sie sich da vielleicht noch an eine Situation erinnern, wie das war
mit den polnischen Juden?
NN: Ja, wie ich gesagt habe, unsere Gebirgstruppe, wir haben sie, und unser
Bataillon wir haben sie in Ruhe gelassen. Wir haben wohl die Synagogen
besetzt, dass wir nicht haben müssen mehr Privathäuser besetzen, und haben
die Juden einfach eingespannt zum arbeiten. Erst wo die SS gekommen ist, da
ist es dann hart geworden. Das ist logisch.
I: Haben Sie da noch eine Situation im Kopf, die Sie heute noch beschäftigt?
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439