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hinein gekommen. Und dann gleich wieder zurück, weil das … Weltkomitee,
oder wie das geheißen hat, sie dürfen nicht bis auf österreichische Gebiete, sie
müssen bis da und da zurück. Da hat es viele noch erwischt. [3 sec. Pause] Und
sonst kann man nur sagen, dass in der jugoslawischen Kriegsgefangenschaft
unwahrscheinliche Zustände geherrscht haben, und dass unwahrscheinlich
viele Kameraden am Hunger gestorben sind, und an den Seuchen. Darm…
schwere Darmkrankheiten, und von den Läusen … Wie heißt das von den
Läusen? [7 sec. Pause] […] Typhus! Laustyphus, Läusetyphus. Es heißt noch
ein bisschen anders. Aber von der Laus übertragen. In unserem Lager ist es
nicht so bös gewesen, ich habe nur Darmkrankheiten hab ich erwischt. […]
Bauchtyphus hab ich gekriegt, da schälen sich die Därme, das kommt so gelb-
lich im Stuhl dann. Und im Lager [unverständlich], da haben wir einen deut-
schen Arzt gehabt. Und wir haben natürlich auch SSler gehabt, denen ist es
natürlich schon schlimm gegangen. Und dann haben wir einen Raum gehabt,
wo man Kacheln hinaus getan hat, da hat man müssen den Stuhlgang hinein
machen. Und wer von diesen Darmschälungen drinnen gehabt hat – das war
ein furchtbar harter Winter – und jetzt erzähl ich Euch etwas, das mag ich
gar nicht erzählen. [lacht] Ich bin hergegangen, wo ich einmal so ein biss-
chen drinnen gehabt habe, Stuhlgang, und in den Kacheln sind noch schlimme
Dinger gewesen, gell. Viel gelb, und da habe ich heraus getan, etwas, und bei
mir hinein in den Kot. Und dann habe ich noch eine Woche bleiben können.
Vielleicht hat das beigetragen zum den Winter Überleben.
I: Und wie hat das Lagerleben ausgeschaut?
NN: Lagerleben, ja. Das war halt eine dünne Suppe, morgens einen leeren
Kaffee und ein kleines Schnittili Brot. „Türggabrot“358, die haben ja mords viel
„Türgga“ dort unten. Und zu Mittag eine Bohnensuppe, wo du hinunter gese-
hen hast, und am Abend auch. Hat es ein Stück Brot gegeben.
In NNs Erzählung ist die Antipathie den englischen Soldaten gegenüber deutlich
spürbar, was darauf hinweist, dass im Rahmen seiner Erzählung jene Gefühle wie-
der wach werden, die er beim Rückzug, auf der Flucht, bei der Gefangennahme
durch die Engländer und schließlich bei der Übergabe der deutschen Gefange-
nen an die jugoslawischen Soldaten empfand. Die Aussagen „So eine Gruppe hätte
uns nicht begegnen dürfen“, „die hätten wir schon erledigt“ oder „Die Engländer,
die haben uns nicht wollen“ sowie die Schilderungen, dass die englischen Trup-
pen zunächst unrechtmäßig auf österreichischen Boden vorgedrungen seien,
verdeutlichen die in der Erzählung wiederauflebende Abneigung und Aggression
gegenüber den gegnerischen Truppen – die kurze Zeit später doch öffentlich als
„Befreier“ gehandelt wurden. Anschließend folgt die Beschreibung der „unwahr-
scheinlichen Zustände“ im jugoslawischen Lager, die NN mit einer bewusst ekel-
erregenden Geschichte – nach dem vorangestellten Hinweis „und jetzt erzähl ich
Euch etwas, das mag ich gar nicht erzählen“ – zu illustrieren versucht. Der Erzähler
bemüht sich hier, mittels extremer Beispiele der jungen Zuhörerin (angesprochen
358 Maisbrot.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439