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266 durch den von älteren MontafonerInnen noch manchmal verwendeten höflichen
Majestätsplural) die heute unvorstellbare Situation zu vermitteln.
Neben Hunger und Krankheiten prägen auch Erzählungen über harte körperli-
che Arbeit bzw. über große körperliche Anstrengungen beispielsweise in Form
von Märschen die Darstellungen ehemaliger Kriegsgefangener in den östlichen
Gewahrsamsländern. Der 1926 geborene ST beschreibt nachfolgend einen Marsch,
bei dem es für viele Gefangene um Leben und Tod ging, weil die sowjetischen Sol-
daten die schwachen, stürzenden Gefangenen erschossen:
ST: Und natürlich dann beim Marsch in der Gefangenschaft, […] man hat das
einfach durchgehalten, weil man gesehen hat, wer liegen blieb, der ist sofort
erschossen worden. [unverständlich], nie umgeschaut, dass man da einen auf-
gehoben hätte, sondern „bums“ zusammen geschossen, und weg. Und das hat
einen natürlich schon auf Trab gehalten. Hat man gedacht, „nur nicht schlapp
machen“. Man hat kein Wasser gehabt. Es ist eine große Hitze gewesen im
Mai 45. Also schon nicht gerade so wie hier. Auf der einen Seite ist es fein
gewesen, dass gutes Wetter gewesen ist, immer. Dass man nicht nass geworden
ist und so. Aber es hat gleich geheißen, wo wir in Gefangenschaft gekommen
sind: schauen dass wir etwas Proviant erwischen. Dann sind diese LKWs,
die deutschen, herum gestanden, der Nachschub-Ding. Da hat man geschaut,
dass man ein paar Konserven oder so irgendetwas erwischt. Und dann, in
der Gefangenschaft haben wir, dadurch dass wir nichts gearbeitet haben, und
die Russen haben immer gesagt: nix robot, nix fahren. Du brauchst nichts
zu essen. Wenn du nichts arbeitest, brauchst du nichts zu essen. Da hat man
dann in so alten Benzinfässern hat man Suppe gemacht. Das heißt Wasser
hinein geschüttet, Mais drauf, hinein geschüttet einen Sack. Und dann hat
man es gerührt, und das gekocht. Und dann hat man natürlich dieses Zeug
bekommen. Am Anfang hast du nur Wasser gehabt, und weiter unten ist
dann ein bisschen Mais noch mitgekommen. Ja, halt alles ohne Salz und ohne
Schmalz. Und dann bin ich dann eben an der Ruhr erkrankt. Und bin dann
nur mehr gelegen. Aber das muss ich sagen, ich habe mich nie aufgegeben.
Nie. Ich habe das hundertprozentige Gefühl immer gehabt, ich komme wieder
heim. Das schaffe ich.
I: Woher haben Sie das Wissen gehabt? Oder woher haben Sie dieses Gefühl
genommen, dass Sie wieder heim kommen?
ST: Einfach … Ich habe ein kleines Foto gehabt vom Wohnhaus, wo wir
gewohnt haben. Und da ist ein großer Birnbaum davor gestanden. Dann
habe ich es angeschaut und habe gedacht: „Unter diesen Baum gehe ich wie-
der. Unter diesen Baum komme ich wieder.“ Ich habe einfach … doch eine
Vorahnung hat man, dass man es schafft. Wir haben da so viel erlebt in der
Gefangenschaft, dass sie sich aufgegeben haben. Und da sind auch die Wiener,
die Ding sind in dieser Hinsicht furchtbar gewesen. Die haben immer nur
gejammert, und gejammert und gejammert: „Und i kumm eh nimma ham.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439