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270 dem Kristberg oben ist die SS gewesen. Aber das ist da schon Juni gewesen.
Jetzt ist sie aber nicht mehr oben.“ Dann habe ich „a Haua“361 gehabt. Ich habe
mich da als Straßenmann ausgegeben. Wenn jemand gekommen ware. Aber
es ist niemand gekommen. Und dann bin ich über den „Kreschbreg“362 herein.
Und dann zur Tante auf den Kristberg. Auf dem Kristberg habe ich dann ein
Mittagessen bekommen. Und dann bin ich aber nicht der Straße nach heraus,
sondern [unverständlich] in der Mitte. Also einem kleinen Weg in der Mitte.
Und dann auf der Straße nach Silbertal. Die Straße oder den Weg nach von
Kristberg nach Innerberg. Und wo ich heim gekommen bin, sie haben gerade
geheut, die haben fünf Monate nichts mehr von mir gewusst. Da haben sie
schon eine Gaude gehabt. Ich bin der Erste gewesen.
NM berichtet, wie er und ein Kamerad auf der Reise in den Westen im Wald schlie-
fen und dabei Wind und Wetter ausgesetzt waren, und thematisiert ebenfalls die
Hilfestellung, die ihnen durch Dritte gegeben wurde. Sehr repräsentativ in NMs
Erzählung ist die Anekdote über den Kontakt mit amerikanischen Besatzungssol-
daten, denen er eine Falle unterstellte, während sie tatsächlich Hilfe brauchten.
Durch dieses erzählerische Bild der hilfsbedürftigen Sieger wiegt die Tatsache, den
Krieg verloren zu haben, ein klein weniger schwer. Zwar schwingt bei dieser Heim-
kehrer-Anekdote (wie im Übrigen in sehr vielen anderen Heimkehrgeschichten
auch) ein Hauch von Abenteuer und Gefahr mit: Die Angst vor Festnahme, Bestra-
fung oder anderen Sanktionen, das Unbehagen, plötzlich dem Feind gegenüberzu-
stehen, oder die Furcht, im Chaos der ersten Nachkriegswochen Opfer irgendeiner
dummen Willkür zu werden, sind wichtiger Bestandteil des Erzählstoffs von der
Heimkehr. Die vormaligen Kriegsgegner werden aber schließlich auf Augenhöhe
gestellt, und mit dem Hinweis auf die sich am Kristberg verschanzende SS wird
bereits deutlich Distanz gegenüber den nationalsozialistischen Gruppierungen
eingenommen. So haben viele Heimkehrergeschichten erste Anzeichen der Kame-
radschaftlichkeit mit den Besatzern zum Inhalt.
Was die Heimkehr ins Montafon selbst betrifft, ähneln sich die Darstellun-
gen der Zeitzeugen erneut – und teilweise verblüffend. So berichten viele Männer
etwa, genau wie NM, sich über Umwege vorsichtig ans Montafon herangetastet
zu haben, sich schließlich mit bäuerlichen Gerätschaften als landwirtschaftliche
Arbeiter getarnt zu haben, und von der Familie voll der Freude empfangen wor-
den zu sein. Aufgrund dieser zahlreichen Parallelen in vielen Erzählungen von der
Heimkehr kann durchaus von Mustererzählungen gesprochen werden, die inner-
halb der Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft durch häufigen Austausch der
Erinnerungen und Geschichten sowie eine darausfolgende Schwerpunktsetzung
aus allen Erlebnissen dieser Zeit entstanden.
Die Reaktionen der Familie nehmen verständlicherweise einen wichtigen Teil in
den Erzählungen von der Heimkehr ein. Zumeist schildern die Zeitzeugen die
361 eine Hacke.
362 Kristberg.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439