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Reaktionen der Frauen – und insbesondere der Mütter, die sie häufig noch als
junge Buben verlassen hatten und denen sie nun als ausgezehrte Soldaten gegen-
überstanden. Die überschwängliche Freude wird etwa mit „da hat die Mutter fast
einen Herzinfarkt bekommen“ (AC) zum Ausdruck gebracht. Die Erzählungen der
Ältesten unter den Zeitzeugen thematisieren tendenziell eher die Reaktionen ihrer
Ehefrauen und darüber hinaus jene ihrer Kinder – die angesichts des fremd aus-
sehenden Mannes erst von ihrer Mutter informiert werden mussten, dass nun der
Vater hier sei (PP). Dass sie ihre Kinder noch nie gesehen hatten, diese zunächst
keine Notiz von ihnen nahmen oder die ungepflegten Männer manchmal auch
überhaupt nicht erkannt wurden, ist ein weiterer häufiger Erzählstoff.
Die Mustererzählung, die vom Nicht-wiedererkannt-Werden bei der Heim-
kehr aus dem Krieg handelt, ist sowohl typisch für die Erzählungen der Zeitzeugen
als auch der Zeitzeuginnen. An dieser Stelle sollen, nachdem nun in den letzten
Kapiteln ausschließlich Männer zu Wort kamen, zwei Erinnerungserzählungen
von Frauen beispielhaft aufzeigen, dass die Erinnerungen an die Heimkehr der
Männer häufig mit Schilderungen des Nicht-Wiedererkennens der einst so nahe-
stehenden Menschen verknüpft sind:
KK ♀, geboren 1922:
KK: Der Vater musste noch zum Volkssturm auf Schlanders in Südtirol. […]
Lang über 50 ist er gewesen. Er hat beim ersten Weltkrieg mitgemacht.
I: Wissen Sie, was er davon erzählt hat?
KK: Ja … da ist er in Galizien und so … hat er erzählt. Und wie er heim
gekommen ist, ist er mit dem Zug bis Wiesberg und dann haben sie müssen
auch zu Fuß herein, oder. Und da sind, scheint’s, auch ein paar Frauen aus
dem Zug ausgestiegen und auch her, und da ist unsere Mama dabei gewesen.
Er hat sie erkannt, aber die Frauen haben ihn nicht mehr erkannt, obwohl sie
ihn früher auch gekannt haben. Aber da haben sie ihn nicht mehr erkannt. Er
wird auch demnach ausgesehen haben. – Dem Bruder ist es gleich gegangen.
[…] Ein Eisenbahner hat ihm Kleidung gegeben, und der Bauer hat ihm noch
Brot mitgegeben, damit er etwas … Und dann ist er auch wieder über die
Berge, und dann ist er wieder ein Stückli mit dem Zug gefahren, wo er wieder
etwas erfahren hat, dass der nicht so bös ist. Und, wie gesagt, bis Wiesberg,
Landeck, wo es dann hinein geht ins Paznaun, vor der Eisenbahnbrücke ist
die Haltestelle. Und da sind an dem Tag zwei Nachbarinnen, […] sind auf
Wiesberg. Und da ist er auch ausgestiegen, mit einem Eisenbahnerrock und
Kappe und Rucksack. Und dann haben sie ihn aber nicht erkannt, aber er
hätte die Nachbarinnen gekannt und hat ihnen zugerufen, „lasst ihr mich
auch mit heim?“ Da haben sie einmal geschaut. Und wir sind an dem Abend,
wir haben ein Doppelhaus gehabt, da sind wir am Abend mit den Nachbarn
in der Stube gesessen, mehrere Nachbarn beieinander. Und dann kommt die
Mathilde herein, macht die Tür wieder zu: „Heut werdet ihr sehen, wen wir
mitbringen“. Und dann kommt die andere Nachbarin herein, und dann „Ja,
warum magst du die nicht draußen lassen?“ [lachen] Und dann geht wie-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439