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Flucht machten. Diese Tatsache ist im Gedächtnis der ZeitzeugInnen (und auch
jüngerer Einheimischer) bis heute sehr präsent und wird in den Interviews häufig
angesprochen.
Der bereits erwähnte Meinrad Juen stellt eine zentrale Figur in den Erzählun-
gen um die Flüchtlinge in die Schweiz dar. Bemerkenswert ist allerdings, dass er
in allen Darstellungen als Held skizziert wird, der durch seine Verwegenheit und
Bauernschläue zahlreichen Menschen das Leben rettete.372 Zur im Gedächtnis der
Bevölkerung heute noch recht präsenten und beliebten Figur des Meinrad Juen
gibt es in Bezug auf das Geschäft mit der Flucht auch einen Gegenpart, der in den
Erzählungen von Einheimischen (vor allem aus dem Inneren Montafon) ebenfalls
bis heute namentlich erinnert wird. Dass er, im Gegensatz zu Juen, gewissermaßen
als Kristallisationsgestalt des Bösen dargestellt wird, erfordert die Anonymisierung
seiner Person an dieser Stelle. In zahlreichen Interviews wird er ohnedies einfach
als „der Verräter von Gargellen“ dargestellt. Die nachfolgend mit den Worten des
1927 geborenen AB dargestellte Geschichte rankt sich – in unzähligen verschie-
denen Varianten – um ein Grabschild mit dem Namen „Nikolaus Staudt“.373 Wie
es tatsächlich zum Tod des mutmaßlichen Deserteurs am Gafierjoch in Gargellen
kam, muss ungeklärt bleiben. Umso interessanter stellt sich ein Vergleich der ver-
schiedenen Geschichten um die Ereignisse im August 1944 dar, unter denen die
Darstellung ABs aufgrund ihrer überraschend detaillierten und romanähnlichen
Ausführung besonders bemerkenswert erscheint:
AB: Aber der hat Freiheit gewollt und möchte heraus [aus der Wehrmacht].
Ganz gescheit hat er sehr guten Dienst geleistet. Normal haben die Eingezoge-
nen fast keinen Urlaub bekommen. Aber er bekam Urlaub. Hat er sich schon
die Karte Deutschlands angeschaut […] und hat den Fahrschein benutzt, um
über Feldkirch nach Bludenz zu reisen. […] Er hat dann in Bludenz ein biss-
chen herumgefragt, und da fängt das Übel an. Einer hat ihn dann an jeman-
den in St. Gallenkirch verwiesen. An einen, der für den SD, Sicherheitsdienst,
gearbeitet hat. Wer das war, habe ich niemals heraus gebracht. Der in St. Gal-
lenkirch, der wurde fernmündlich … dem hat man gesagt, „da kommt einer
hinauf“. Da war der Staudt da, hat gesagt „ich möchte über die Grenze“ und
hat auch bezahlt. Man sagte ihm, er müsse nach Gargellen. In Gargellen hatte
man schon die SiPol verständigt. Und dann wurde dieser IX, […] dem wurde
gesagt, „du sollst diesen Kerl abholen, und du sollst den zum Gafierjoch brin-
gen, über die Madrisa Hütte, am Gandasee entlang, bis ungefähr 150 Meter
zur Grenze, und da steht ein Fels, und da rennst du rein, schreist und sagst zu
diesem Flüchtling, er soll da einfach weiter gehen, er ist fast an der Grenze“.
I: Die waren schon bereit?
AB: Schon längst! Ich habe doch gesagt, in der Bibel steht 30 Münzen für
Judas. In Gargellen gibt es zweimal 30. Was hat dieser IX getan? Das hat ihn
doch ein bisserl abgeschreckt. Seine Mutter hat ihn als katholische Rheinlän-
372 Hessenberger: Menschen – Schmuggler – Schlepper. S. 147–175.
373 Hessenberger: Gescheiterte Grenzüberschreitungen. S. 182.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439