Web-Books
in the Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Geographie, Land und Leute
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Page - 283 -
  • User
  • Version
    • full version
    • text only version
  • Language
    • Deutsch - German
    • English

Page - 283 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg

Image of the Page - 283 -

Image of the Page - 283 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg

Text of the Page - 283 -

283 Flucht machten. Diese Tatsache ist im Gedächtnis der ZeitzeugInnen (und auch jüngerer Einheimischer) bis heute sehr präsent und wird in den Interviews häufig angesprochen. Der bereits erwähnte Meinrad Juen stellt eine zentrale Figur in den Erzählun- gen um die Flüchtlinge in die Schweiz dar. Bemerkenswert ist allerdings, dass er in allen Darstellungen als Held skizziert wird, der durch seine Verwegenheit und Bauernschläue zahlreichen Menschen das Leben rettete.372 Zur im Gedächtnis der Bevölkerung heute noch recht präsenten und beliebten Figur des Meinrad Juen gibt es in Bezug auf das Geschäft mit der Flucht auch einen Gegenpart, der in den Erzählungen von Einheimischen (vor allem aus dem Inneren Montafon) ebenfalls bis heute namentlich erinnert wird. Dass er, im Gegensatz zu Juen, gewissermaßen als Kristallisationsgestalt des Bösen dargestellt wird, erfordert die Anonymisierung seiner Person an dieser Stelle. In zahlreichen Interviews wird er ohnedies einfach als „der Verräter von Gargellen“ dargestellt. Die nachfolgend mit den Worten des 1927 geborenen AB dargestellte Geschichte rankt sich – in unzähligen verschie- denen Varianten – um ein Grabschild mit dem Namen „Nikolaus Staudt“.373 Wie es tatsächlich zum Tod des mutmaßlichen Deserteurs am Gafierjoch in Gargellen kam, muss ungeklärt bleiben. Umso interessanter stellt sich ein Vergleich der ver- schiedenen Geschichten um die Ereignisse im August 1944 dar, unter denen die Darstellung ABs aufgrund ihrer überraschend detaillierten und romanähnlichen Ausführung besonders bemerkenswert erscheint: AB: Aber der hat Freiheit gewollt und möchte heraus [aus der Wehrmacht]. Ganz gescheit hat er sehr guten Dienst geleistet. Normal haben die Eingezoge- nen fast keinen Urlaub bekommen. Aber er bekam Urlaub. Hat er sich schon die Karte Deutschlands angeschaut […] und hat den Fahrschein benutzt, um über Feldkirch nach Bludenz zu reisen. […] Er hat dann in Bludenz ein biss- chen herumgefragt, und da fängt das Übel an. Einer hat ihn dann an jeman- den in St. Gallenkirch verwiesen. An einen, der für den SD, Sicherheitsdienst, gearbeitet hat. Wer das war, habe ich niemals heraus gebracht. Der in St. Gal- lenkirch, der wurde fernmündlich … dem hat man gesagt, „da kommt einer hinauf“. Da war der Staudt da, hat gesagt „ich möchte über die Grenze“ und hat auch bezahlt. Man sagte ihm, er müsse nach Gargellen. In Gargellen hatte man schon die SiPol verständigt. Und dann wurde dieser IX, […] dem wurde gesagt, „du sollst diesen Kerl abholen, und du sollst den zum Gafierjoch brin- gen, über die Madrisa Hütte, am Gandasee entlang, bis ungefähr 150 Meter zur Grenze, und da steht ein Fels, und da rennst du rein, schreist und sagst zu diesem Flüchtling, er soll da einfach weiter gehen, er ist fast an der Grenze“. I: Die waren schon bereit? AB: Schon längst! Ich habe doch gesagt, in der Bibel steht 30 Münzen für Judas. In Gargellen gibt es zweimal 30. Was hat dieser IX getan? Das hat ihn doch ein bisserl abgeschreckt. Seine Mutter hat ihn als katholische Rheinlän- 372 Hessenberger: Menschen – Schmuggler – Schlepper. S. 147–175. 373 Hessenberger: Gescheiterte Grenzüberschreitungen. S. 182.
back to the  book Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg"
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Subtitle
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Publisher
StudienVerlag
Location
Innsbruck
Date
2013
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
Size
15.8 x 23.4 cm
Pages
464
Keywords
Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
Category
Geographie, Land und Leute

Table of contents

  1. Vorwort 11
  2. Einführung 13
  3. 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
    1. 1.1. Potenzial und Grenzen des biografischen Interviews 18
    2. 1.2. Entstehung und Funktion von Erinnerungen 22
      1. 1.2.1. Wahrnehmung 22
      2. 1.2.2. Kollektives, kulturelles, kommunikatives, autobiografischesGedächtnis 25
      3. 1.2.3. Erinnerung 29
    3. 1.3. Spezifika von Erzählungen im Rahmen lebensgeschichtlicher Interviews 31
      1. 1.3.1. Vom Erzählen zur Erzählung 32
      2. 1.3.2. Spezifika von Erzählungen im narrativen Interview 34
      3. 1.3.3. Spezifika lebensgeschichtlicher Erzählungen 35
    4. 1.4. Potenzial der Erinnerungserzählungen 42
  4. 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
    1. 2.1. Zur Entstehung des Quellenmaterials 47
      1. 2.1.1. Der Idealtyp des narrativen Interviews und die Praxis 48
      2. 2.1.2. Die Arbeit mit dem erhobenen Quellenmaterial 50
      3. 2.1.3. Statistischer Überblick über die biografischen Interviews 52
    2. 2.2. Erinnerungspraxis und Erzähltradition: Definition und Forschungsziel 55
      1. 2.2.1. Zur Methodik der Auswertung und Analyse 58
      2. 2.2.2. Zur Darstellung der Ergebnisse 60
  5. 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
    1. 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
    2. 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
    3. 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
    4. 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
      1. 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
      2. 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
      3. 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
      4. 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
      5. 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
      6. 3.4.6. Modernisierung 112
      7. 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
      8. 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
      9. 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
      10. 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
      11. 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
      12. 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
      13. 3.4.13. Autoritäten 183
      14. 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
      15. 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
      16. 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
      17. 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
      18. 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
      19. 3.4.19. Repressives NS-System 230
      20. 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
      21. 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
      22. 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
      23. 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
      24. 3.4.24. Gefangenschaft 263
      25. 3.4.25. Heimkehr 268
      26. 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
      27. 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
      28. 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
      29. 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
      30. 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
      31. 3.4.31. Kriegsende 301
      32. 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
      33. 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
      34. 3.4.34. Entnazifizierung 324
      35. 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
      36. 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
      37. 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
      38. 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
      39. 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
      40. 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
      41. 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
      42. 3.4.42. Liebe und Ehe 370
      43. 3.4.43. Geburt der Kinder 381
      44. 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
      45. 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
      46. 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
      47. 3.4.47. Naturkatastrophen 400
      48. 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
      49. 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
      50. 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
  6. 4. Zusammenfassung und Synthese 421
    1. 4.1. Erzählstoffe und Leitlinien 422
      1. 4.1.1. Die 50 Erzählstoffe einer Durchschnittsbiografie 424
      2. 4.1.2. Ein Leben geprägt von Wandel 427
      3. 4.1.3. Arbeit als Lebensthema 428
      4. 4.1.4. Männer- und Frauenerzählungen 429
      5. 4.1.5. Geschichtliches und Lebensgeschichtliches 430
    2. 4.2. Erzählstrukturen und -strategien: Rechtfertigung, Idyllisierung, Vergleich 432
  7. 5. Verzeichnisse und Nachweise 439
    1. 5.1. Liste der anonymisierten ZeitzeugInnen 439
    2. 5.2. Literaturverzeichnis 440
    3. 5.3. Internetquellen 454
    4. 5.4. Abbildungsverzeichnis 454
    5. 5.5. Ortsregister 458
    6. 5.6. Personenregister 461
Web-Books
Library
Privacy
Imprint
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert