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BX: Als Haut, ja. Die Häute, die Därme geputzt. Und dann ineinander gezo-
gen, bis das fest gewesen ist zu einer Wurst. Und das hat der, das kann ich
mich noch erinnern, dass … Und dann „hot er mi so a biz französisch denn
glehrt“383. Mouton ist Schaf, das weiß ich heute noch.
ZZ ♂, geboren 1938:
ZZ: Ich weiß, bei der Tante in St. Anton, die haben einen Serben gehabt. Einen
Serben. Ich weiß noch gut [lacht], das kann ich noch erzählen, der Serbe hat
Schnecken, Hausschnecken gesammelt. […] Die hat er ins Wasser geworfen
und hat die Schnecken mit Butter – die waren ja auch Bauern bei der Tante
– irgendwie heraus gebacken. Und wir haben dann das gesehen. Wir haben
dann gesagt, „Tante, aus dieser Pfanne werden wir nie wieder Erdäpfel essen“.
Der hat sicher mit seinen Schnecken besser gegessen als wir mit unseren Kar-
toffeln. [lacht]
In ZZs Erzählung ist zwar nicht die Rede davon, dass das kulinarische Wissen des
serbischen Kriegsgefangenen unmittelbar von der Familie übernommen wurde,
dennoch weist der Erzähler abschließend darauf hin, dass ihm heute Schnecken
als Köstlichkeit bekannt seien. Während ZZ seine Erinnerung als unterhaltsame
Anekdote verpackt, erinnert BXs Erzählung eher an einen Bericht. Wie in OPs
Erzählung wird auch in BXs Darstellung thematisiert, dass die Kriegsgefangenen
wertvolle Arbeitskräfte sein konnten. Vor allem über die qualitativ hohen hand-
werklichen Fähigkeiten der Männer lernten die Einheimischen sie auch als Men-
schen schätzen und ließen sich sogar ein Stück weit auf deren Gebräuche ein, was
BX durch das Übernehmen fremder Techniken oder das Lernen fremder Spra-
chen aufzeigt. Hier muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass französische
Kriegsgefangene im Rahmen der Vorurteile gegenüber angeblichen unterschied-
lichen „Rassen“ als ebenbürtiger empfunden und damit menschlicher behandelt
wurden als etwa Männer aus den osteuropäischen Ländern. Im Zuge der histori-
schen saisonalen Wanderungen nach Frankreich hatten viele Montafoner Familien
zusätzlich einen positiven Bezug zu Frankreich oder zur französischen Sprache,
was den Kontakt zu den Kriegsgefangenen erleichterte. Dies deutet auch die 1922
geborene QQ im nachfolgenden Ausschnitt an:
QQ: Kriegsgefangene sind gewesen draußen, bei der Fabrik. Das sind Franzo-
sen gewesen. Und die hat man können ausleihen, zum Arbeiten. Und das ist
dann aber so gewesen, dass man durch das, dass bei uns viele in Frankreich
gewesen sind, haben eben noch ziemlich viele ältere Leute französisch können.
Und da ist denen ziemlich gut gegangen mit … die hat man am Morgen holen
können, und am Abend hat man sie wieder bringen müssen. Die konnte man
nicht zum Übernachten haben. […] Und dann ist man irgendwie … Es hat
dann halt geheißen, man sei zu gut mit ihnen, oder halt da die hätten da … –
383 hat er mich ein bisschen Französisch gelehrt.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439