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308 der eine MG-Stelle. Und die haben sie dann dort entwaffnet. Die haben ihnen
… der SS haben sie die Pistolen und alles abgenommen. Sie haben nieman-
dem etwas getan, sie haben niemand umgebracht, nichts. Sie durften weiter,
aber sie konnten nicht mehr schießen. Und zum Teil auch haben sie sie auch
mit Lebensmitteln dann auch göttlich versorgt.
Ohne Umschweife erzählt CD von den Leistungen der „Heimatwehr“, die in der
Bewachung einer Brücke vor einer eventuellen Sprengung oder in der Entwaff-
nung der potenziell gefährlichen Flüchtigen lag. CD weist auch darauf hin, dass
sein Vater selbst bei dieser „Heimatwehr“ dabei war. Nichtsdestotrotz klingt in
seiner Darstellung leichte Kritik an, wenn er etwa von einer „sogenannten Hei-
matwehr“ spricht oder ungeschminkt beschreibt, wie diese zum eigenen Nutzen
die Lebensmittel-Lastwägen des Militärs plünderte und sich damit selbst „göttlich
versorgte“.
Dass die Erzählungen der ZeitzeugInnen stets persönlich sind und als solche
manchmal direkt auf Befindlichkeiten und Emotionen sowie Erfahrungen und
(politischen) Positionierungen der Befragten hinweisen, verdeutlicht der nach-
folgende Ausschnitt. Der 1930 geborene AZ spart in seiner Erzählung nicht mit
Kritik am Verhalten der hier nun als „Freiheitskämpfer“ bezeichneten Männer und
stellt auch klar, warum ihn dieses Thema persönlich bewegt:
AZ: Ja, und dann eben halt … dann hat es ja solche, was heißt Freiheitskämp-
fer, es sind halt ein paar in der Gemeinde gewesen, wo gegen Ende Krieg nicht
mehr eingerückt sind. Die haben sich dann verschanzt in den Wäldern. Und
die sind dann natürlich, wo dann die Franzosen gekommen sind, sind die groß
da gewesen. Als Freiheitskämpfer [lacht] haben sie sich halt, ich weiß nicht,
haben die sich gebrüstet. Ich meine, es ist keiner freiwillig eingerückt. Wie der
Pfarrer dann sagt da quasi, das sind ja Helden, wo daheim geblieben sind.
Was ist mit den anderen? Wenn sie nicht gegangen wären, wenn die Familie
danach erschossen worden wäre? Ist nicht so einfach gewesen. Es ist … Ein
paar sind jetzt halt einfach verschwunden. Die hat man einfach nicht gewusst,
wo sie sind. Und die sind dann danach, wo der Umsturz gewesen ist, sind sie
halt wieder als Freiheitskämpfer zum Teil … haben sie sich gebrüstet.
Gerade in der Gegenüberstellung der vorhergehenden Ausschnitte mit AZs Erzäh-
lung kann aufgezeigt werden, inwiefern der Erzählstoff der „Heimatverteidiger“
eine Stellungnahme der Erzähler darstellt. Indem die „Heimatverteidiger“ selbst
sowie einige andere Erzähler vor allem auf die Leistungen dieser Gruppen für das
Tal verweisen, unterstreichen sie ihren Patriotismus und den Einsatz ihres Lebens
für die „Heimat“ und distanzieren sich nicht zuletzt auch vom Nationalsozialis-
mus. Kritische Stellungnahmen können nicht zwingend mit einem Bekenntnis
zum Nationalsozialismus gleichgesetzt werden, jedenfalls aber fühlen sie sich ins-
besondere durch die später folgenden Lobreden auf die „Heimatverteidiger“ per-
sönlich berührt oder sogar angegriffen. Kritiker wie AZ empfinden die Heroisie-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439