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lich auch durchaus Bedauern ausdrücken – und beispielsweise durch die Betonung
des „Damals“ (OP) klare Vergleiche mit den heutigen Möglichkeiten junger Leute
zu erkennen sind. In AZs und WXs Erzählungen werden die äußeren Umstände,
die eine Ausbildung verunmöglichten oder hinauszögerten, konkret benannt. AZ
verweist auf die älteren Geschwister, die das Elternhaus verließen, und den jünge-
ren Bruder, auf dessen Ausschulung er warten musste, damit er auf der elterlichen
Landwirtschaft entbehrlich war und im Alter von 21 Jahren schließlich eine Mau-
rerlehre beginnen konnte. WXs Berufswahl war beeinflusst von seiner finanziellen
Situation. Für ihn kam nur eine Ausbildung in Frage, für die er nicht bezahlen
musste.
AZ deutet im obigen Ausschnitt die wichtige Rolle des Vaters für seine Berufs-
wahl an. Bereits im Kapitel über Autoritäten in den Lebenserinnerungen wurde
der Vater als Entscheidungsträger in Bezug auf Ausbildungsmöglichkeiten und
Berufsentscheidungen angesprochen. BX, geboren 1930, erzählte beispielsweise
vom Verbot ihres Vaters, den Lehrberuf zu ergreifen. Doch nicht immer kommt
den Vätern die Rolle des gestrengen „Verbieters“ zu. Nachfolgend beschreiben FF
und JJ, wie ihre Väter ihnen mit ihren Ratschlägen und Netzwerken einen großen
Dienst für das weitere Leben erwiesen:
FF ♂, geboren 1935:
FF: Mit 16 Jahren, nachdem der Vater festgestellt hat, dass ich zum Land-
wirtschaft Betreiben also nicht unbedingt Talent habe [I lacht], ein kleiner,
schmächtiger Bub auch gewesen bin, hat man über einen Verwandten, der bei
der Illwerke später dann Baudirektor war, eine Lehrstelle in Partenen bekom-
men. Ich habe am 1. Oktober 1951 bei Illwerke in Partenen in der Schlosserei
in den Dienst der Illwerke treten dürfen.
JJ ♂, geboren 1927:
JJ: Dann ist der Direktor Huber, der Lehrer Huber, zum Papa gekommen und
hat gesagt: „Du, der ist ganz ein guter Schüler. Lass ihn doch Lehrer werden.“
– „Nein“, habe ich gesagt, „das mag ich schon grad gar nicht.“ Und dann muss
man dazu sagen, wir sind aufgewachsen in einer Zeit, zwar christlich-sozial
hat sie geheißen, aber der Papa ist im Konsum gewesen. Die haben ja eine
Woche Urlaub gehabt. Mehr haben die nicht gehabt. Und die haben … am
Sonntag sogar mussten sie ins Geschäft gehen. Und am „Wärchtig“440 ist es
sogar bis am Abend um sieben gegangen. Und schon am Morgen früh haben
sie anfangen müssen. Und das hat der Papa dann gesagt: „Du schau einmal,
ich habe für die Familie einfach zu wenig Zeit gehabt. Werde Lehrer, da hast du
wenigstens Ferien.“ Und das hat mich dann dazu bewogen, dass ich in die LBA
gegangen bin. Also das [lacht] ist der einzige Grund gewesen. Ich bin es danach
440 Werktag.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439